Im Antlitz des Herrn
Großzügig mit Fördergeldern werde der bedacht, über den der Minister in der Zeitung gelesen habe. Wolfram hatte sich über diesen Ratschlag furchtbar erregt. Thomas erinnerte sich noch an seine Worte:
«Wir erforschen an unserem Institut nicht ein beliebiges historisches Thema. Wenn wir neue Erkenntnisse über das frühe Christentum gewinnen, vielleicht sogar über das Leben Jesu, seiner Familie oder seiner unmittelbaren Umgebung, trifft das die Gefühle von Millionen Menschen. Damit darf man nicht spielen.»
So sehr Thomas viele der Theorien ablehnte, die sein Bruder vertrat, so sehr war er von seiner Integrität überzeugt.
«Das hört sich nicht nach meinem Bruder an.»
Er schaute di Lucca direkt in die Augen und setzte trotzig hinzu:
«Sie scheinen Wolfram nicht gut zu kennen.»
«Ich kenne ihn gar nicht, Thomas, und möglicherweise haben Sie recht, was Ihren Bruder angeht. Ich hoffe es, denn ansonsten drohen ihm ernste Konsequenzen.»
Von einer Sekunde auf die andere änderte sich die Atmosphäre im Raum. Bevor der Pfarrer etwas erwidern konnte, sprach di Lucca weiter:
«Auch wenn Ihr Bruder nicht mit Henderson kooperiert, wäre es für uns wichtig, zu wissen, was der Brite plant. Wir haben Informationen, dass er in Israel etwas gefunden hat, von dem er überzeugt ist, dass es ihn seinem Ziel ein gehöriges Stück näher bringt. Und das Ziel ist und bleibt die absolute Zerstörung aller Glaubenswahrheiten der Kirche. Wir würden gerne wissen, um was es sich handelt und was Henderson damit vorhat.»
Thomas nahm die Kaffeekanne in die Hand und schüttete sich eine Tasse ein. Er wollte ein paar Sekunden Zeit zum Überlegen gewinnen. Dann wandte er sich an den Bischof, der die letzten Minuten schweigend auf dem Sofa gesessen hatte.
«Wenn Sie möchten, frage ich meinem Bruder, was es mit dieser Sache in Israel auf sich hat.»
Der Bischof nickte nur stumm. Dafür antwortete di Lucca:
«Das ist sehr kooperativ von Ihnen, Thomas. Aber erzählen Sie Ihrem Bruder auf keinen Fall von unserem Treffen. Das ist besser für Sie und für ihn.»
***
Henderson stierte in seinen Malt-Whisky. Sie saßen in der Bar des Jerusalemer King David Hotels, und der Barmann wischte zum x-ten Mal über den Tresen. Weder Engel noch Henderson machten Anstalten, auf ihre Zimmer zu gehen. Es schien, als hätten sie Angst zu schlafen. Vielleicht wachten sie am nächsten Tag auf, und alles würde sich als Traum erweisen.
Engel räusperte sich.
«Ich weiß, du willst es nicht hören», vor etwa zwei Stunden waren sie zum Du übergegangen, «aber das Ganze kann reiner Zufall sein.»
«Zufall? Das glaubst du doch selbst nicht, Wolfram. Die Namen alleine, meinetwegen. Aber die Tatsache, dass wir einen Josef und eine Maria, Frau des Josef, haben, sowie einen Simon ist schon ziemlich starker Tobak. Schließlich hatte der Jesus der Evangelien einen Bruder namens Simon. Und dann noch dieses versteckte Ossuarium, verziert, als sei darin eine hochgestellte Persönlichkeit begraben. Das passt doch perfekt für den König der Juden, oder? Von der Beschriftung gar nicht zu reden: ‹Jesus, Josefs Sohn›. Was willst du noch mehr?»
Engel stellte sein Rotweinglas vorsichtig ab.
«Natürlich ist der Fund faszinierend, keine Frage. Aber im Moment wissen wir viel zu wenig, um Schlüsse zu ziehen. Die israelische Antikenbehörde hat vor Jahren ein Verzeichnis der bekannten Ossuarien herausgegeben. Weißt du, wie oft sich darin der Name Jesus findet?»
Henderson schüttelte mit dem Kopf.
«Sechs Mal, zwei Mal davon mit dem Zusatz ‹Sohn des Josef›. Du siehst, so einmalig ist dein Fund nicht.»
«Lagen die anderen auch mit ihren Eltern namens Maria und Josef sowie ihrem Bruder Simon in einem Grab?»
Henderson klang genervt.
«Du fängst schon wieder an zu spekulieren, Harold. Wir wissen nicht, ob sie verwandt waren.»
«Okay, okay, ich gebe es auf. Du bist und bleibst ein unverbesserlicher Skeptiker. Genau deshalb brauche ich dich. Sollte ich nämlich recht haben, und wir haben das Familiengrab Jesu samt seiner sterblichen Überreste geöffnet, kann nur ein Zweifler wie du die Untersuchung leiten. Schulterklopfer umgeben mich genug.»
«Ausgeschlossen, Harold. Wenn du die Ossuarien außer Landes bringen lässt, begehst du Diebstahl. Eigentlich müsste ich sofort die Behörden informieren, um mich nicht selbst strafbar zu machen. Meine wissenschaftliche Laufbahn kann ich dann vergessen.»
«Papperlapapp! Was bietet deine
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