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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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das alles nicht ertragen hatte.
    »Wie Paul Niemann.«
    Heidelinde Zach nickte. »Was hatte er eigentlich?«
    »Bei Männern kannst du das ja nie so genau sagen.« Heidelinde Zach beugte sich vor, lächelte in Hans Bereiters Richtung. »Wir Frauen haben einen Nervenzusammenbruch, die Männer haben Kreuzweh oder einen Hörsturz
oder einen Husten, der nicht mehr weg will, möchte ich mal sagen.«
    »Oder sie schlagen ihre Frau«, sagte Hans Bereiter.
    »Oder das.«
    »Und Paul Niemann?«, fragte Louise.
    »Lungenentzündung. Drei Monate lag der flach. Im Hochsommer.« Heidelinde Zach zuckte die Achseln, lehnte sich zurück.
    »Waren Sie über die Fälle informiert, die er bearbeitet hat?«
    »Nur wenn es Probleme gab.«
    »Gab es Probleme?«
    »Keine ungewöhnlichen, jedenfalls keine, an die ich mich erinnere, möchte ich mal sagen. Aber haben Sie ihn das nicht selbst gefragt?«
    »Er ist nicht sehr kooperativ.«
    »Ja, das ist ein Stiller, der Paul. Ich hätte ja geschworen, dass er zurückkommt nach München. Der wollte um keinen Preis fort. Die Frau, die wollte fort.«
    »Ja.«
    »Und jetzt brennt ihm einer das Haus ab.« Auch Heidelinde Zach war informiert, wusste das Wesentliche. Ein ehemaliger Mitarbeiter, ein ehemaliger Kriegsflüchtling. Der Einbruch, die Drohung, der Brand. Sie nickte düster, und alles an ihr wackelte, Wangen, Kinn, Busen, Bauch, und der Stift in ihrer Hand klickte gegen die Schreibtischplatte. Sie zog das Waldkleid zurecht, das ein wenig verrutscht war beim Nicken und Wackeln. Das habe ja so kommen müssen, sagte sie, schon damals sei die Situation schwierig gewesen, seien die Grenzen zwischen Mitarbeiter und Flüchtling häufig überschritten worden. Ausbrüche von Zorn, von Verzweiflung. Drohungen, Tränen, Erzählungen
von Vergewaltigung, Mord, Krieg, Verlust der Heimat, traumatisierte Kinder, das war ja alles furchtbar persönlich und intim gewesen, das vergaß man nicht, keines dieser Schicksale vergaß man, möchte ich mal sagen. Anrufe bei Mitarbeitern zu Hause, manchmal hatte einer frühmorgens einen Flüchtling vor der Haustür stehen ...
    Doch nicht der Paul, soweit sie wusste.
    Ja, eine schwere Zeit für alle. Pro Mitarbeiter hundertsechzig Fälle am Tag, das KVR schwarz vor Menschen, in der Cafeteria wurden Ziehnummern verkauft. Das politische Chaos. Die zahlreichen Prozesse, Widerspruchsverfahren, Eilverfahren, Verfügungen. Gierige Anwälte, die sich dumm und dämlich verdient hatten. Und nicht zuletzt die Ungerechtigkeiten – Krankenschwestern und Ärzte durften bleiben, weil hierzulande die Pflegesicherheit nicht mehr gewährleistet war. Die anderen mussten gehen, wenn sie nicht unter die Bleiberegelung fielen, die wiederum viel zu spät gekommen war. Weigerten sie sich, wurde meistens der Vater in Haft genommen, die Familie samt Handgepäck abgeholt und abgeschoben. Was sie an Gegenständen, Möbeln, Besitz hier ließen, wurde mit dem nächsten Transport nach Bosnien geschickt.
    So war das damals, in den Jahren nach Dayton.
    Louise erkundigte sich, wie mit Flüchtlingen verfahren worden war, die deutscher Abstammung waren. Heidelinde Zach erwiderte, dass Deutschstämmige über die Staatsangehörigkeitsstelle gelaufen seien. Wer schon hier gewesen sei, habe Deutschland erst einmal wieder verlassen müssen, Aufenthaltstitel für Deutschstämmige habe man nur aus dem Ausland beantragen können.
    »Hatten Sie solche Fälle?«
    »Ein paar. Aber es waren wenige. Und ob der Paul einen
hatte, das weiß ich nicht mehr.« Heidelinde Zach erhob sich, zupfte das Waldkleid an den Schultern zurecht. »Kommen Sie, Sie haben viel zu tun.«
    »Abendessen im Hofbräuhaus?«, fragte Hans Bereiter.
    Louise lächelte. »Abendessen in Freiburg.«
    »Ganz bestimmt nicht«, sagte Heidelinde Zach.
     
    Wieder leere Flure, leere Aufenthaltsräume, vielleicht dieselben, vielleicht andere, Louise hatte die Orientierung verloren. Dann ging es im Fahrstuhl nach unten, sekundenlang war neben dem Fahrtgeräusch nur das schwere Schnaufen von Heidelinde Zach zu hören und ein metallisches Klicken – sie hatte den Stift mitgenommen, schnippte ihn gegen die Aufzugwand. Je länger sie fuhren, desto deutlicher nahm Louise einen merkwürdigen Geruch wahr – es roch tatsächlich nach Wald, als verströmte Heidelinde Zachs Kleid den Duft von Bäumen, saftigen Blättern, Tannennadeln, Moos.
    Im Keller gingen sie durch weitere Flure, gelangten schließlich in den Archivbereich, dreiundzwanzig Kilometer Regal,

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