Im Auftrag der Väter
»Bosna i Herzegovina«, wohnhaft in Štrpci, verheiratet seit dem 18 . 5 . 1979 mit – sie drehte den Bogen um – Biljana – sie kehrte zur Vorderseite zurück –, in Deutschland eingereist am 30 . 11 . 1993 , wohnhaft München, Tegernseer Landstraße. Auf der Rückseite der Zweck des Aufenthaltes, fast unleserlich stand dort »Krig im Bosnien«.
Sozialhilfe benötigt? Ja. Vorbestraft? Nein.
Dann folgten die Daten zu Biljana, die ebenfalls aus Štrpci, »Bosna i Herzegovina«, stammte und wesentlich jünger war als ihr Mann, geboren 1959 , und zu Snježana, der Tochter, 1982 in Štrpci geboren.
Die Unterschrift Antun Lončars bestand aus kleinen, fein säuberlich geschriebenen Buchstaben, ganz anders als die Unterschriften auf den übrigen Bögen, die Louise gesichtet hatte. Als sollte jeder Leser in der Lage sein, diesen Namen, Antun Lončar, auf den ersten Blick zu entziffern.
Sie drehte den Bogen um, betrachtete das Foto. Die
leicht gesenkten Augen, die angespannten Wangen, aber das musste natürlich nichts heißen, in der Ausländerbehörde eines fremden Landes war man nun mal angespannt.
Antun Lončar.
Wieder so ein fremder Name, wie Valpovo in der korrekten Betonung. Ein Name, zu dem sie keinerlei Assoziationen hatte.
Abgesehen von dem Personenbogen enthielt die Akte Schriftverkehr der Behörde mit Lončar beziehungsweise mit dessen Rechtsanwalt und einen Ausreiseschein sowie ein Schreiben, das aus zehn, elf zusammengehefteten Seiten bestand und mit »Vollzug des Ausländerrechts; Versagung der Aufenthaltsgenehmigung des bosnischen Staatsangehörigen Antun Lončar, geboren am 2 . 11 . 1942 in Štrpci« betitelt war.
Unter Punkt 2 . stand, leicht schräg eingestempelt, das Datum, bis zu dem Lončar die Bundesrepublik verlassen haben musste: 1 .September 1998 .
Ganz oben, unter »Sachbearbeiter/in«, stand »Hr. Niemann«.
Ja, sie hatten ihn.
Sie war schon an der Tür, Antun Lončars Akt unter dem Arm, als ihr einfiel, dass vermutlich auch zu Biljana und Snježana eigene Vorgänge angelegt worden waren.
Sie fand sie im selben Karton, natürlich, gleich die nächsten Sammelhefter – Lončar Biljana, Lončar Snježana. Wie bei Antun Automatenfotos, aufgehellt und mit der ganzen aufdringlichen Farbintensität von Fotoautomaten, als sollten sie die Gesichter und die Menschen der Lächerlichkeit preisgeben.
Biljana, die Mutter, hatte ein schmales, weiches Gesicht, Snježana kam mehr nach dem Vater, hatte denselben intensiven
Blick, die Augen wie Antun leicht gesenkt, angespannte Wangen, wirkte hart und unnahbar.
Auch in ihren Zügen, fand Louise, lagen unsichtbare Schmerzen. Sie war 1993 , als das Foto entstanden und der Vorgang angelegt worden war, elf gewesen, musste die erste Phase des Bosnienkrieges miterlebt haben. Ein Kind im Krieg, dann auf der Flucht. Ein Kind in einem fremden Land, in dem es wie so viele Flüchtlingskinder schneller oder langsamer heimisch geworden war, es musste in München zur Schule gegangen sein, Freundinnen gehabt haben, zum ersten Mal verliebt gewesen sein.
Dann, 1998 , hatte dieses Kind das Schuljahr noch beenden dürfen, in den Sommerferien war es abgeschoben worden, eine Ferienreise, von der es nicht zurückgekommen war.
Im Büro von Heidelinde Zach faxte sie die Unterlagen an Alfons Hoffmann, suchte die Nummer des Rechtsanwaltes heraus, Dr.Georg Thomas Seidl, einer von den Abkassierern und Skrupellosen, sagte Heidelinde Zach, den Namen fand man in jedem zweiten Flüchtlingsakt, der hatte sich auf Kriege und Flüchtlinge spezialisiert und sich daran totverdient, möchte ich mal sagen. Sie beugte sich vor und spuckte verächtlich Luft auf den Boden. Louise hielt das Handy schon in der Hand, beschloss dann, nicht anzurufen, das wäre zu heikel gewesen, das musste über den Staatsanwalt gehen, jetzt keinen Fehler machen, Bonì, keine Vorschriften missachten, jedenfalls nicht bei einem skrupellosen Rechtsanwalt.
Während Heidelinde Zach den Computer herunterfuhr und den Schreibtisch aufräumte, dachte Louise über eine Frage nach, die sie beschäftigte, seit sie in dem Kellerkabuff auf den Personenbogen Antun Lončars gestoßen war. Paul
Niemann hatte den Bogen, also auch das Foto in der Hand gehabt. Wie war es möglich, dass er sich nicht wenigstens vage an dieses Gesicht erinnert hatte, als Antun Lončar auf seiner Terrasse gestanden hatte? Als er das Foto in seiner Digitalkamera gesehen hatte?
Ein Gesicht unter Hunderten, natürlich, eine schwere Zeit
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