Im Auftrag der Väter
Ilic die Augen schließen müssen. Das Rappeneck, da hätte sie ihn nie im Leben mit hochnehmen dürfen.
»Also«, sagte Thomas Ilic. »Kroatien.«
Also erzählte sie, von Anfang an, Thomas Ilic wusste nichts, was sie beinahe wieder zum Weinen gebracht hätte, Illi, der doch immer alles gewusst hatte, selbst wenn er in seinem Schnellhefter mit den Unterlagen und den blauen Wörtern hatte nachsehen müssen ...
Sie schluckte die Tränen hinunter.
Ein Mann im Garten der Niemanns am Samstagnachmittag, dann stand er vor der Balkontür, eine Pistole in der Hand. In der Nacht ging er durchs Haus, das auf irgendeine Weise
sein
Haus war, bedrohte Paul Niemann, stellte ein Ultimatum. Geht weg, innerhalb von sieben Tagen, sonst ...
»Sonst?«
»Warte.«
Zwei Tage später stand der Mann auf einem Merzhausener Acker, lief davon, als er sie sah, sie hinterher, dann war er verschwunden, in die Kanalisation gestiegen, weil er sich vorbereitet hatte auf den Notfall. In der Nacht des nächsten Tages ging er wieder durch das Haus, tränkte die Böden und Wände mit Benzin, weckte die Niemanns, verschwand, sah vom Schönberg aus zu, wie das Haus, das auf irgendeine Weise doch
sein
Haus war, bis auf die Grundmauern niederbrannte.
Das war das »Sonst« gewesen.
»Der Brand in Merzhausen. Vielleicht hast du’s in den Nachrichten gesehen.«
»Nein«, sagte Thomas Ilic. Keine Nachrichten, keine Zeitungen, seit Sommer 2003 . »Übrigens, nicht
deswegen.
«
»Nein.«
»Wirklich nicht. Es interessiert mich einfach nicht mehr. All das Politikergequatsche.«
Sie schwiegen für einen Moment.
Dann fuhr Louise fort. Einer, der gebrochen Deutsch sprach, als hätte er es vor langer Zeit gelernt und dann lange nicht gesprochen, hatte Paul Niemann gesagt, ein Deutschstämmiger. Ein alter Krieger, hatte er gesagt, und das passte irgendwie. Er führte ganz offensichtlich einen Krieg, nur was für einen Krieg und gegen wen und warum, das wussten sie nicht. Immerhin wussten sie nun, dass Paul Niemann in München für die Ausländerbehörde gearbeitet und Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien nach dem Krieg in ihre Heimat zurückgeschickt hatte. Vielleicht ging es um
diesen
Krieg. Und vielleicht ging es um die Deutschen aus Jugoslawien.
»Aber was hat das mit Kroatien zu tun?«
»Ach ja, das hab ich vergessen.« Sie erzählte von Lahr, von Friedrich und dem Zigarettenetui, von Valpovo 1945 . Valpovo in Slawonien in Kroatien.
»Val
povo«, korrigerte Thomas Ilic.
Sie nickte enttäuscht. Das klang nun nicht mehr italienisch, das klang fremd, die erste Silbe schwer und dunkel, dann zwei kurze, kaum hörbare hinterher, keine lichte italienische Zitronenstadt unter blauem Himmel an einem stillen Meer, sondern etwas anderes, Unbekanntes, zu dem es in ihrem Kopf keine Bilder gab.
»Val
povo«, wiederholte sie gehorsam.
»Ja. Wir betonen anders.«
»Auf der ersten Silbe.«
»Zum Beispiel.«
»Warst du da mal? In Valpovo?«
»Nein, aber in der Nähe, in Osijek. Ich hatte einen Onkel in Osijek.«
Osijek, dachte sie und erinnerte sich daran, in den Unterlagen von Alfons Hoffmann etwas über eine Stadt namens Essegg gelesen zu haben. Wenn Valpovo einen deutschen Namen hatte, dann vielleicht auch Osijek.
»Valpovo«, sagte Louise auf die italienische Weise und korrigierte sich widerstrebend,
»Val
povo hat auch einen deutschen Namen. Walpach.«
»So«, sagte Thomas Ilic.
»Wo liegt das? Valpovo, Osijek, Slawonien?«
»Zwischen Save und Drau.«
Sie seufzte ungeduldig. »Illi ...«
Thomas Ilic lachte. »Zwischen Ungarn im Norden und Bosnien und Herzegowina im Süden. Weit weg von der Küste, von den Touristen.« Viel Ackerbau, wenig Industrie, sagte er. Schöne Kirchen und Kathedralen, ein gemütliches Leben in kleinen Städtchen, in denen sich alles ein wenig langsamer vollzog als in Zagreb und an der Küste, auch der Fortschritt, aber das Niveau war längst fast mitteleuropäisch, schön war es da, ruhig, ländlich, und Osijek, gut hunderttausend Einwohner, viele Cafés, Studenten, wunderschön an der Drau gelegen. Jenseits der Drau, sagte Thomas Ilic, hatten vor zehn Jahren die Serben gestanden und herübergeschossen und die Wälder vermint, und Louise dachte, da war er wieder, der Krieg, um den es vielleicht ging, vor dem der alte Krieger nach München geflohen war, in die Heimat der Vorfahren vielleicht, aber das wussten sie alles noch nicht genau, das waren nur Ahnungen.
Ja, dachte sie, ein Fall, der viele Ahnungen in ihr
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