Im Auftrag der Väter
auch für die Sachbearbeiter, der Stress, die häufigen Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen. Aber immerhin Gesichter, die für schwere Schicksale standen, und hatte Heidelinde Zach nicht gesagt, das vergaß man nicht, keines dieser Schicksale vergaß man?
Sie rief sich ihr erstes Gespräch mit Paul Niemann ins Gedächtnis, das Gespräch über die Russlanddeutschen im Bürgerservice, als er gesagt hatte, er erinnere sich an viele der Menschen, die bei ihm gewesen seien, sehe die alten Männer mit den Schiebermützen und zerknitterten Gesichtern, die alten Frauen mit den bunten Kopftüchern und gehäkelten Jacken, die Jugendlichen mit der dunklen, glänzenden Sportkleidung vor sich, als wäre es gestern gewesen. Menschen, die gedacht hatten, in eine Ur-Heimat gekommen zu sein, und in dieser Ur-Heimat letztlich doch nur Ausländer gewesen waren, nicht einmal EU -Ausländer, nein, sie waren »die Russen« gewesen.
Sie dachte daran, dass Paul Niemann gesagt hatte, er habe mit diesen Menschen Mitleid gehabt. Hatte er mit Antun Lončar kein Mitleid gehabt? Warum hatte er dessen Gesicht vergessen? Hatte er es verdrängt? Wegen München? Weil München nicht mit dem Mann zusammenhängen durfte, der wie der schlimmste Albtraum in sein Leben eingedrungen war?
Sie half Heidelinde Zach in eine Überwurf-ähnliche Jacke mit Blumenmotiven, dachte an Paul Niemann, der das
alles nicht ertragen hatte. Der nach zwei, drei Monaten krank geworden war, weil er Menschen aus der neuen Heimat in die alte hatte zurückschicken müssen.
Sie traten auf den Flur hinaus, Heidelinde Zach schaltete das Licht aus. Louise starrte in den dunklen Raum, und da begriff sie.
Paul Niemann, der vielleicht nicht die Kraft gehabt hatte, sich die Fotos auf den Personenbögen anzusehen.
Sie gingen ohne Hans Bereiter essen, der abgesagt hatte, einen neuen Zeugen vernehmen musste im Promimord. Heidelinde Zach dirigierte sie die lange Lindwurmstraße hinauf, ein paar Minuten später folgten sie der unendlich langen Nymphenburgerstraße, bogen schließlich ab, da drüben, sagte Heidelinde Zach und zeigte auf ein italienisches Lokal, das ein warmes dunkles Gelb in die Münchner Nacht strahlte. Die kleine Terrasse hinter Mäuerchen und Gebüsch war voller Leute, und Louise dachte, draußen sitzen Ende Oktober, wie in Freiburg. Aber vielleicht genügten drei, vier Stunden auch nicht, um die subtilen Unterschiede zu erkennen.
»Und jetzt kommt der gemütliche Teil des Tages, möchte ich mal sagen«, meinte Heidelinde Zach, während sie ein paar Straßen weiter parkten. »Italienische Pasta, dazu einen Roten, oder trinken Sie lieber weiß?«
Sie stiegen aus. Louise hakte sich in die Blumenjacke und das Waldkleid ein, hielt sich an einem wulstigen, warmen Unterarm fest. Irgendwie, fand sie, war es mal wieder Zeit zu reden, was eignete sich besser dafür als ein lauer Oktoberabend in einer fremden Stadt mit einer fremden Zufallsbekanntschaft ...
»Mal von Frau zu Frau gesprochen, Heidi«, sagte sie.
Rigatoni mit Gemüse, dazu literweise Wasser, hinterher zwei Espressi, und reden, reden, reden. Zwei kleine, freundliche, blasse Italiener eilten von Tisch zu Tisch, ein Mann, eine Frau, ganz offensichtlich die Besitzer, scherzten, lachten, schwitzten, während Louise wieder einmal in Wörter zu kleiden versuchte, was man einem Menschen, der nicht dasselbe Problem hatte, nur so schwer erzählen konnte.
Wo sie ohnehin noch dabei war, Wörter zu testen, seit eineinhalb Jahren.
Anfangs hatte sie gelogen –
Ich vertrag keinen Alkohol / Ich mag keinen Alkohol / Ich mag keinen Rotwein / Ich mag kein Bier / Ich will einen klaren Kopf haben.
Dann hatte sie keine Lust mehr gehabt, sich schon wieder zu verstecken, nachdem sie sich doch jahrelang mit der Sucht versteckt hatte, ganz so, wie Jenny Böhm es nun wieder tat. Also:
Ich hab getrunken / Ich hab zu viel getrunken / Ich hab Alkohol gebraucht, um mich gut zu fühlen, wenn Sie wissen, was ich meine.
Ich war eine Säuferin
für die, die sie hatte schockieren wollen.
Ihre Lieblingspsychologin, Katrin Rein, hatte »Alkoholproblem« vorgeschlagen, »du hattest ein Alkoholproblem«, aber mit diesem Wort hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht – weniger in Bezug auf ihr Gegenüber als auf sich selbst. »Alkoholproblem«, das klang so unlösbar, ein deprimierendes Wort, selbst mit einem Vergangenheitsverb, ein Wort, das sich für immer in seinen drei »o« festgefahren hatte und sich nie mehr daraus
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