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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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sagte Heidelinde Zach mit einer Mischung aus Stolz und Überdruß. Sie führte Louise in einen kleinen Raum mit Stuhl und Tisch und Dutzenden Pappkartons mit Hunderten Akten. Seit dem Anruf von Hans Bereiter am Vormittag suchten sich zwei Mitarbeiter durch die dreiundzwanzig Kilometer. Da die meisten Akten alphabetisch nach dem Namen geordnet waren, hatten sie über die EDV erst nach den Herkunftsländern Kroatien beziehungsweise Bosnien und Herzegowina sortiert, dann nach dem Rückführungsdatum: zwischen Mai 1998 , als Paul Niemann in der Untersbergstraße angefangen hatte, und vor Ende 1999 , als die Rückführung nach Ausschöpfung sämtlicher rechtlicher
Möglichkeiten spätestens abgeschlossen gewesen sei.
    »Da hat sich jemand Gedanken gemacht«, sagte Louise.
    Heidelinde Zach klopfte sich mit dem Stift gegen die Brust, lächelte, und das weiche, dicke Gesicht wurde für einen Moment mütterlich und strahlend schön. »Wenn er bei uns ist, finden wir ihn.« Sie deutete auf die Pappkartons. »Sie können ja schon mal anfangen.«
    »Schon mal anfangen?«
    »Da kommt noch mehr.«
    »Da kommt noch mehr?«
    Heidelinde Zach lächelte wieder, war wieder hinreißend schön, ein Sonnengesicht, in dessen Wärme Louise gern Tage, Wochen, Monate verbracht hätte.
    »Abendessen im Hofbräuhaus«, sagte Heidelinde Zach, »und Frühstück im KVR . Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«
    »Mit Milch und Zucker.«
    »Was zum Essen dazu?«
    »Ein Croissant, wenn das möglich ist.«
    »Sie essen Croissants? Ich dachte, so dünn, wie Sie sind, essen Sie nur Gemüse.«
    »Ich lasse mich ein-, zweimal pro Jahr anschießen, die Regeneration hält schlank.«
    Heidelinde Zach stutzte, öffnete den Mund, lachte, ein herrliches, inniges, lautes Lachen, das die leeren Flure, die leeren Aufenthaltsräume bis unters Dach hinauf mit Fröhlichkeit und Liebe füllen musste und noch in den Wänden nachzuklingen schien, als sie längst gegangen war.
     
    Dann saß Louise allein vor den Pappkartons, überschlug ehrfürchtig die Anzahl der Akten, ging ab zweihundertdreißig großzügig in Fünfzigerschritten weiter, um die achthundert würden es schon sein, und da kam ja noch mehr.
Zehn Minuten lang überlegte sie, ob es eine Möglichkeit gab, die Symmetrie der alphabetisch geordneten Akten durch asymmetrisches Suchen zielführend aufzubrechen. Da ihr am Ende als Lösung nur der Zufall einfiel, griff sie sich mit geschlossenen Augen irgendeinen Karton, hob den Deckel ab, starrte auf ein an den Personenbogen getackertes Foto, das dunkle Gesicht einer älteren Frau aus Tuzla, und begriff erst allmählich – Fotos! Darauf hatte sie nicht zu hoffen gewagt.
     
    Um sechs schob ein gehbehinderter junger Mann einen Rollwagen mit weiteren Kartons herein. Sie half ihm beim Abladen, ging auf die Toilette, kehrte in ihr Kabuff zurück und suchte weiter. Um sieben kam Heidelinde Zach mit einem Glas Wasser und versprach, sie um halb acht abzuholen fürs Hofbräuhaus. Louise stürzte das Wasser hinunter und fragte, aber wieso das Hofbräuhaus, glaubt ihr Münchner wirklich, alle Nichtmünchner wollen ins
Hofbräuhaus
?
    »Ja, wollen Sie denn nicht?«
    »Ganz bestimmt nicht.«
    »Dann gehen wir halt woanders hin.«
    »Aber falls ich ihn vorher finde ...«, begann Louise, doch Heidelinde Zach hob schon die Hand mit dem Stift, den sie nie wegzulegen schien, ließ den Zeigefinger hinund herwackeln, sagte:
    »Auch dann. Essen muss der Mensch, selbst der Freiburger, und wenn er nichts isst, dann schaut er halt zu, wie andere essen.«
    Sie lachten, und Louise willigte ein, dachte an das Sonnengesicht, ein bisschen Sonne in der Nacht, das war doch gar nicht schlecht.
     
    Dann, wenige Minuten später, fand sie den alten Krieger.
    Sie hatte rund ein Dutzend Männer aussortiert, die in Bezug auf Aussehen und Alter in Frage gekommen wären, als sie auf sein Foto stieß. Ein Automatenfoto, ein von einem Blitz aufgehelltes, farbiges Gesicht, ganz anders als das auf Paul Niemanns Fotografie, aber sie zweifelte keinen Moment lang – das eisgraue Haar, das raue, verwitterte Gesicht. Die Augen waren leicht gesenkt, die Wangen wirkten angespannt, fast so, als wären die Schmerzen, die diesen Mann umtreiben mussten, schon damals in dem Gesicht sichtbar gewesen, Anfang der Neunzigerjahre, hier, in München.
    Sie lehnte sich zurück, den Personenbogen in der Hand, ein Kribbeln im Bauch.
    Sie hatten ihn.
    Antun Lončar, geboren am 2 . 11 . 1942 in Štrpci, Staatsangehörigkeit von

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