Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
mir.«
Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen kniete sich Leah neben die Großmutter und sah fassungslos mit an, wie das Baby kam, schnell und zusammen mit viel Blut.
»Die Götter seien gepriesen! Es ist ein Junge!«, rief Avigail, ehe sie das kläglich wimmernde Kind in eine Decke wickelte und es Leah überreichte. Überschwänglich hatte sich ihr Ausruf nicht angehört.
Sie wandte sich wieder Hannah zu und schnitt mit einer scharfen Kupferklinge die Nabelschnur durch, während Leah das kleine Leben in ihren Armen in Augenschein nahm, das rote Gesichtchen, die geschlossenen Augen, das mit Blut und Geburtsflüssigkeit verschmierte Körperchen. Aus dem offenen Mündchen des Winzlings drangen Schreie, die denen junger Katzen ähnelten, und bei jedem Luftholen überlief ihn ein Zittern.
Wie klein er war, wie hilflos. Leahs Tränen tropften auf ihn, als sie mit einem stummen Gebet Asherah anflehte, ihn am Leben zu lassen.
Der Hausverwalter trat ein, atemlos, seine Gewänder vom Regen durchnässt. »Der Arzt war nicht zu Hause, Herrin«, sagte er zu Avigail. »Sein Diener verwies mich auf einen Arzt in der Nähe, den ich auch antraf und der zusagte, unverzüglich zu kommen.«
»Nicht zu Hause?« Wie alle wohlhabenden Familien hielt sich auch die von Elias einen Arzt in ständiger Bereitschaft. Er hatte Tag und Nacht zur Verfügung zu stehen, um ihnen zu ersparen, sich wie gewöhnliche Bürger an einen der Ärzte wenden zu müssen, die im Haus des Goldes praktizierten. Sie rümpfte die Nase und blickte zur Tür. »Und? Wo ist der Mann? Wir benötigen dringend …«
Die Worte blieben ihr im Halse stecken, sie riss die Augen auf, als sie den Fremden erblickte, der leise eintrat. Er war hochgewachsen, in Weiß gekleidet, trug eine lange schwarze Perücke und an einem Riemen über der Schulter einen Kasten.
»Du schleppst uns einen Ägypter an?«, herrschte sie den Verwalter an.
»
Halla!
Damit bringst du Fluch über unser Haus!«
Schon wollte sie mit einer abweisenden Geste den Fremden fortschicken, als dieser jedoch näher trat und mit schwerem Akzent sagte: »Ich habe meine Ausbildung im Haus des Lebens in Theben absolviert. Ich kann helfen.«
Avigail überlief ein Schauer. Unwohlsein überkam sie. Draußen ging ein Frühjahrsregen nieder, begleitet von Donnergrollen, und hier drinnen baute sich ein Ägypter vor ihr auf. Wie seinerzeit in Jericho.
Etwas abseits stand Leah mit dem Baby im Arm und lauschte dem Wortwechsel. Der Arzt schien keinerlei böse Absichten zu verfolgen. Er war sauber gekleidet und höflich und schien bereitwillig helfen zu wollen. Allerdings wusste sie, wie sehr die Großmutter das Volk verabscheute, dem dieser Mann hier angehörte und der jetzt Avigail kurz zunickte und daraufhin die Kammer verließ. Was für Wundermittel mochte er in dem Kasten an seiner Schulter aufbewahren?
»Mein Sohn«, flüsterte Hannah. »Bitte reich ihn mir.«
Leah genügte ein Blick auf den Kleinen, um zu erkennen, dass er nicht länger zitterte. Seine Ärmchen waren erschlafft und der winzige Mund entspannt.
»Großmutter!«, rief sie leise.
Avigail eilte zu ihr und wusste sofort Bescheid. »Er ist zu den Göttern gegangen«, murmelte sie und malte ihm das heilige Zeichen Asherahs auf die Stirn.
»Halla!«,
hörte man einen Mann rufen. In voller Größe und in einer Frauenkammer eher nutzlos und unbeholfen wirkend, stand Elias an der Tür.
»Elias«, erschrak Avigail, »du darfst hier nicht hereinkommen. Das bringt Unglück.«
»Als Hannah zu schreien aufhörte, habe ich auf Nachricht gewartet, aber niemand sagte etwas.«
Avigail ging ihm entgegen, schloss ihn in die Arme und sagte: »Mein Sohn, das Kind ist gestorben. Wir konnten es nicht retten.«
Elias kniete am Bett seiner Frau nieder, küsste sie und ließ seine Tränen auf das leblose Kind tropfen. Dann presste er das Gesicht an den Busen seiner Frau und fing hemmungslos zu schluchzen an. »Meine Geliebte! Du meine Geliebte! Ich danke den Göttern, dass du lebst! Schlag mich dafür, dass ich froh bin, dass, wenn schon einer von euch beiden sterben musste, es das Kind war! Ich kann dich nicht verlieren, mein Lieb!« Er hörte nicht auf zu weinen.
Obwohl sie erschöpft war, hob Hannah den Arm und strich ihrem Ehemann über das dichte Haar. »Bitte schick Leah nicht zu diesem grässlichen Weib. Sonst werden unsere Enkel von der gleichen Krankheit befallen wie Ziras Sohn.«
Avigail mischte sich ein. »Du hast unsere Gäste sich selbst überlassen,
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