Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
sein.
Sie und ihre Mutter saßen in der Frühjahrssonne und lauschten den Lerchen auf der anderen Seite der hohen Mauer, die den Hof umgaben. Zwei Frauen, durch Lehmziegel und Kummer von der Welt abgeschottet.
Sie waren nicht allein. Tamar arbeitete an ihrem Webstuhl, Esther fertigte eine Kette aus blauen und roten Tonperlen, die sie auf dem Markt erstanden hatte. Tante Rakel saß an einem niedrigen Tisch und knackte unter Zuhilfenahme eines kleinen Holzhammers Mandeln, die sie zum Kuchenbacken verwenden wollte.
Während sie mit dem Kamm aus Elfenbein durch die dichten Flechten der Mutter fuhr, wanderten Leahs Gedanken zurück zu jener turbulenten Nacht vor einem Jahr, die so unerwartete, weitreichende Folgen gehabt hatte. Beim Aufschrei der Mutter damals hatte sich ihr Herz entschieden. Sie bedauerte nicht, wie sie reagiert hatte, aber es tat ihr aufrichtig leid, dadurch ihrem Vater so viel Ärger bereitet zu haben. Immer mehr Freunde mieden ihn, und auch geschäftlich gab es Schwierigkeiten: Einstmals treue Kunden bezogen ihren Wein neuerdings von anderen Winzern. Leah hatte ihrem Vater sogar erklärt, sie würde Jotham heiraten, sollte der noch dazu bereit sein, aber das hatte der Vater abgelehnt. Das habe er ihrer Mutter versprochen …
»Welchen Schleier möchtest du heute tragen?«, fragte sie. Ob die Mutter sich wohl für den blassblauen entscheiden würde, der ihr so gut stand?
»Meinen Hausschleier, Liebes. Der genügt mir für heute.« Hannah hatte sich wegen ihrer Monatsblutung zurückgezogen, während der sie weder das Haus verließ noch Besuche empfing. Eine heilige Zeit war das, eine, die Männer verstörte und erschreckte, Frauen aber in engeren Kontakt mit dem Mond und der Göttin brachten. Dieselben weiblichen Vorfahren, die die Hälfte des Hauses für sich allein reklamiert hatten, hatten ebenfalls bestimmt, dass sich eine Frau während ihres monatlichen Mondflusses der Ruhe hingeben sollte. Dies sei ihre Zeit für Meditation und Reflexion. Dementsprechend durfte sie nicht zur Arbeit angehalten werden, keinen Besuch empfangen, keine Verantwortung übernehmen. Es war eine Zeit, auf die sich Frauen freuten, in der sie Alltagssorgen und Haushaltspflichten hinter sich ließen, um Körper und Geist zu erfrischen und angenehmen Beschäftigungen nachzugehen. Männer bezeichneten diese Zeit als tabu, Frauen nannten sie heilig.
Für Leahs Mutter hingegen war dies auch eine Zeit der Trauer und eine schmerzvolle Erinnerung. Seit dem Tod ihres kleinen Jungen waren zwölf Zyklen vergangen. Sie hatte Elias viele Male in ihrem Bett willkommen geheißen, doch sie war nicht erneut schwanger geworden. Jetzt ging sie auf die vierzig zu und wusste – wie alle anderen im Hause auch –, dass ihre fruchtbaren Tage gezählt waren.
Und noch immer war es ihr nicht vergönnt gewesen, Elias einen Sohn zu schenken.
Leah merkte, wie niedergeschlagen die Mutter war. Trug nicht auch sie mit Schuld daran?
Obwohl Ziras Unverschämtheiten und das zukunftsdeutende Traumgesicht bei der Mutter die Wehen ausgelöst hatten, war sie, Leah, in jener Nacht mehr als ungehorsam gewesen. Und bekanntlich wurde Ungehorsam von den Göttern bestraft. War
sie
etwa für den Tod des Babys verantwortlich?
Avigail betrat den sonnigen Hof. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich habe eine Familie ausfindig gemacht, die zu einer Hochzeit nach Sidon muss, weshalb sie ein gutes Tempo anschlagen und nur kurze Pausen einlegen wird. Sie haben mir versichert, sofort nach ihrer Ankunft meinen Brief an meine Cousine auszuhändigen.« Sie griff nach einem Korb mit Flicksachen. Mochte die Familie auch wohlhabend sein und sich neue Kleidung leisten können, Avigail war sparsam und hielt nichts von Verschwendung. »Leah, Liebes, morgen fangen wir mit der Arbeit an deinem Brautkleid an.«
»Ja, Großmutter.«
»Und sobald du mit dem Segen von Dagon und Asherah verheiratet bist, wird Jotham seine Feindseligkeiten gegen uns aufgeben.« Sie nahm sich den ausgefransten Saum einer der knöchellangen Tuniken von Elias vor, hielt inne, um Tamar bei der Arbeit am Webstuhl zuzuschauen. Durch die Kettfäden aus schwarzer Wolle, die am oberen Ende eines einfachen Holzrahmens befestigt, unten mit Steinen umwickelt und dadurch straff gespannt waren, ließ die Enkelin mit Hilfe eines glattpolierten Führungsschiffchens braune Schussfäden auf und ab durch die Ketten gleiten. Ungemein flink bewegten sich ihre Hände, übersprangen aber schon mal den einen oder
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