Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
anderen Faden, weil das junge Mädchen lieber den Lauf der Sonne beobachtete, die langsam über der Gartenmauer abtauchte. Sie hat es eilig, sinnierte Avigail. Sie verfolgt ungeduldig, wie die Stunden verstreichen. Weshalb? Hoffentlich schickte die Cousine in Sidon so bald wie möglich einen Ehemann für Leah, damit anschließend Tamar mit einem Mann verheiratet werden konnte, der das unbeherrschte Mädchen bändigen würde.
»Übrigens habe ich auf dem Heimweg Keena getroffen«, sagte Avigail, über den ausgefransten Saum gebeugt. »Sie erzählte mir, dass Ziras Sohn vergangene Nacht erneut einen Anfall hatte. Drei Ärzte wurden gerufen, um ihn zu behandeln. Aber sie konnten nichts ausrichten.«
»Er leidet eindeutig an der Fallsucht«, warf Tante Rakel ein und legte eine Mandel auf einen runden flachen Stein, um sie gleich darauf mit einem gezielten Hammerschlag zu zertrümmern.
Avigail, die gerade eine geeignete Bronzenadel aus dem Nähkästchen heraussuchte, nahm die Bemerkung kommentarlos hin. Auch wenn sie erleichtert war, Leah ein leidvolles Schicksal erspart zu haben, zerrte bereits die kleinste Anspielung auf jene unheilvolle Nacht vor einem Jahr an ihren Nerven. »Wie kann sie darauf hinarbeiten, ihren Sohn auf den Thron von Ugarit zu bringen, wenn er mit so etwas geschlagen ist?«, sagte sie verbittert. »Man erzählt sich, dass er bei einem Anfall zu Boden stürzt, dass ihn ein Zittern überfällt und aus seinem Mund Schaum austritt. Heilen lässt sich das nicht.« Wie konnte Zira es wagen, ungeachtet dieser erblichen Belastung über einen Ehevertrag verhandeln zu wollen?
»Oh, doch, Fallsucht kann geheilt werden«, widersprach Rakel und holte die unbeschädigte Mandel aus der zersplitterten Schale. »Mein Ehemann verwendete dafür eine Heilpflanze aus seinem Garten. Wir besaßen damals herrliche Gärten. Inzwischen habe ich mir hier auch einen angelegt«, sagte sie und griff sich eine weitere Mandel aus dem Korb, »an der südlichen Mauer, unterhalb der Küchen. Kennst du die Stelle, Avigail, Liebes?«
»Ich muss mich um andere Dinge kümmern, Tante Rakel. Um Leahs Hochzeitsgewand.« Mit einem »
Halla!«
schaute sie unvermittelt auf. »Wird eigentlich ihr Ehemann hier bei uns leben, oder wird er mit Leah nach Sidon zurückkehren? Das habe ich noch gar nicht bedacht!«
»Falls es überhaupt einen Ehemann
gibt«
, kam es gereizt vom Webstuhl, an dem Tamar saß.
»Ruf die Götter an, Kind«, fuhr Avigail sie an. »Worte können fatale Auswirkungen haben. Über diesem Haus schwebt schon Unheil genug, noch mehr anzurichten ist wirklich nicht nötig.« Bei Asherah! Warum nur war das Mädchen derart garstig?
»
Ich
weiß, wie Leah mit Sicherheit zu einem Ehemann kommt«, sagte Tante Rakel und lächelte. »Mit Hilfe eines wundersamen Tranks, den ich aus Jericho kenne. All unsere Frauen, die ihn zu sich nahmen, haben gute Ehemänner gefunden.«
»Wirklich, Großmutter?« Leah ließ den Schleier der Mutter, den sie in der Hand hielt, sinken. »Gibt es tatsächlich solch einen Trank?«
»Aber gewiss doch«, versicherte Rakel. »Avigail, weißt du noch, wie wir Glückselixiere für alle möglichen Zwecke mischten? Unsere Familie war dadurch gegen vieles gefeit.«
»Schon möglich. Aber Gebete ersetzen solche Tränke nicht«, sagte Avigail und wünschte, ihre betagte Tante möge sich zu einem Nachmittagsschläfchen zurückziehen. Sie musste so viel überlegen, so viel planen, und Rakels Geplapper störte da nur. Vor allem, wenn sie unangenehme Erinnerungen an die Vergangenheit aufleben ließ.
»Leah, Liebes« – Rakel legte den Hammer beiseite und stand auf –, »hilf mir, die Kräuter für den Glückstrank zu pflücken. Ich weiß sogar noch, welchen Spruch man aufsagen muss, wenn man ihn trinkt.«
Leah wandte sich an Hannah. »Mutter, darf ich Tante Rakel begleiten?«
Hannah bedachte die alte Frau mit einem neidvollen Blick. Rakel hatte ihr »weises« Alter erreicht, und allein schon deswegen verehrte man sie und erwartete von ihr nichts weiter, als dass sie weiterhin am Leben blieb, zum Beweis dafür, dass man sehr alt werden konnte. Bei mir dagegen geht es nur noch um meinen Leib, überlegte sie. Wenn mein Leib unfruchtbar geworden ist, wozu bin ich dann noch nütze? Werde ich für den Rest meines Lebens Isha Elias bleiben und niemals Em Ari genannt werden oder wie immer mein Sohn hätte heißen können?
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich, Liebes. Geh nur. Ich glaube, ich werde mich
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