Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
kurz hinlegen.«
Leah folgte ihrer betagten Tante, deren Schleier vom Kopf gerutscht war, so dass das zerzauste weiße Haar nach allen Richtungen abstand. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters war Rakel noch rüstig und voller Energie. Der Grund dafür lag, wie Leah wusste, in dem allmorgendlichen Trank, den die Tante seit ihrer Kindheit zum Frühstück zu sich nahm. Diesem speziellen Gebräu, behauptete Rakel, habe sie es zu verdanken, so alt geworden zu sein, ohne an Schmerzen in den Gliedern oder an Verdauungsproblemen zu leiden, und sich obendrein ein gutes Gehör und ein scharfes Auge zu bewahren. Es handelte sich dabei um ein uraltes Rezept, das von Generation zu Generation weitergereicht, allerdings von allen anderen im Hause verschmäht wurde. Avigail, die den Trank einmal probiert hatte, fand ihn abscheulich. Zudem war er kostspielig, denn die für die Zubereitung entscheidende Pflanze war schwer aufzuziehen und in Ugarit als Import nur auf dem Ägyptischen Markt zu bekommen, um den Avigail einen großen Bogen machte. Rakel dagegen fand nichts dabei, ihre goldenen Ringe gegen Waren von ägyptischen Kaufleuten einzutauschen, handelte es sich doch, wie sie immer wieder betonte, nicht um die gleichen Ägypter wie die vor vierzig Jahren. Außerdem wollte sie nicht auf den Saft dieser seltenen Pflanze verzichten, die sich Sellerie nannte. Sie vermischte ihn allmorgendlich mit dem Saft von ausgepressten Wacholderbeeren, mit Petersilie und Karottensaft und fügte auch noch Mohnsamen und Kreuzkümmel – ein weiterer Import aus Ägypten – hinzu. Das genaue Rezept – wie viel von jeder Zutat – war nur ihr bekannt. Und Avigail beließ es gern dabei.
»Wohin gehen wir, Tante Rakel?«, fragte Leah.
»In meinen besonderen Garten, Liebes. Du wusstest nichts davon, nicht wahr? Keiner kennt ihn. Ich habe ihn letztes Jahr angelegt, zum Gedenken an den kleinen Schatz, der in der Nacht, als dieser fürchterliche Jotham und seine eselsgesichtige Schwester bei uns zu Gast waren, zu den Göttern ging. Gleich wirst du sehen, was daraus geworden ist.«
Leah freute sich, wie lebhaft und angeregt ihre Lieblingstante plauderte, und sie war auch erleichtert, dass sie den eigenartigen Verlust des Zeitempfindens überwunden hatte, der sie in der Nacht von Hannahs Sturzgeburt heimsuchte. Danach gab sich Rakel so wie immer, hatte an ihrem Webstuhl gearbeitet, über das vielköpfige Küchenpersonal gewacht, alle Türschwellen gekehrt, um böse Geister fernzuhalten, schon weil ihrer Meinung nach eine Frau, so wohlhabend sie auch sein mochte, niemals untätig sein sollte.
Und auf alles schien sie eine Antwort zu haben. Es gab nichts, wofür sie nicht eine Lösung fand. Als Leah vor Jahren mit einer streunenden Katze nach Hause gekommen war und sie behalten wollte, die Katze sich jedoch widersetzte und das Weite zu suchen drohte, hatte Tante Rakel gesagt: »Streich ihr Salbe auf die Pfoten, dann bleibt sie.«
Auch wenn Leah bezweifelt hatte, dass mit Salbe bestrichene Pfoten eine Katze zum Bleiben bewegen würden, hatte sie den Rat befolgt. Als sie dann sah, wie sich die Katze putzte und sich hingebungsvoll die Salbe von den Pfoten leckte, war ihr ein Licht aufgegangen: Bis nämlich die Katze ihr ausgedehntes Reinigungsritual beendete, würde sie sich an die Gerüche und Geräusche des Hauses gewöhnt haben und glauben, sie habe schon immer hier gewohnt. Die Katze blieb acht Jahre, fett und zufrieden, bis zum Ende ihres Lebens.
Ein andermal war Esther in Panik geraten, weil sie etwas im Auge hatte. Mutter und Großmutter bemühten sich vergeblich, den Fremdkörper zu entfernen – bis Tante Rakel eine aufgeschnittene Zwiebel vor Esthers Gesicht hielt und dadurch bei dem Mädchen einen Tränenstrom auslöste, der mühelos den Schmutzpartikel aus dem Auge geschwemmt hatte.
Nicht zum ersten Mal befand Leah, wie hilfreich es war, über solch umfangreiches Wissen verfügen zu können.
»Der Glückstrank beruht auf einem ägyptischen Rezept«, merkte Rakel an, als sie ihre Großnichte durch die Villa, über Gänge, um Säulen herum und durch Türen führte. Wohin wollte die Tante nur, wunderte sich Leah. An den zahlreichen Gärten im und um das Haus waren sie inzwischen auch vorbeigegangen. »Die Ägypter verstehen sich auf den wirksamsten Zauber überhaupt. Wusstest du das, Kind? Ich werde dir zeigen, wie du die Blätter richtig zerkleinerst und in heißem Wasser einweichst. Alles muss genau nach Vorgabe erfolgen, damit der
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