Im Auge des Feuers
vor, wie der Mann dort stand, sich nur langsam bewegte, den Blick stumpf über die Umgebunggleiten ließ, Eindrücke auffing und sie irgendwo im Gedächtnis archivierte, ohne sie zu reflektieren. Hatte er jemanden kommen oder gehen sehen? Oder etwas anderes, an das er sich nicht mehr bewusst erinnerte? Ließ sich etwas davon vielleicht wieder hervorholen?
Bei dem Mann, der dort drinnen verbrannt war, konnte es sich durchaus um Jens’ Bruder handeln. Wie war er hineingekommen? Die Möglichkeit einer Einladung – wie Jens es genannt hatte – war tatsächlich nicht auszuschließen.
Eira grub beide Hände ins Haar, versuchte, sich das Szenario vorzustellen. Die Leiche, fast unkenntlich, wurde mit Karl Fjelds Ring und dessen Brille gefunden. Man nahm deshalb an, es sei Karl. Wenn es hingegen Jens’ Bruder gewesen war: Warum hatte niemand den Mann vermisst? War nicht nach ihm gefahndet worden? Eira legte Benjaminsen einen Zettel mit der Bitte hin, die Archive von 1969 zu durchsuchen.
Eira überlegte weiter. Jens Eide war ein ziemlich betagter Mann. Betrachtete man seinen ungesunden Lebenswandel, so war es äußerst verwunderlich, dass er überhaupt so alt hatte werden können. Eiras Intuition schlug Alarm. Er fühlte eine gewisse Unruhe wie einen schleichenden Virus in seinem Körper, wurde plötzlich unkonzentriert und rastlos.
Eira blickte aus dem Fenster. Ende Oktober, unbeständiges Wetter und Kälte. Zu dieser Zeit des Jahres gab es wenig Tageslicht und die Nächte waren lang. Gerade alte Menschen waren gefährdet. Und alte kranke Obdachlose wie Jens erst recht. Man konnte leicht auf Neuschnee oder einer spiegelglatten Eisschicht ausrutschen. Dieser Tage stürzten sogar einige junge Personen und verletzten sich schwer an einer Bordsteinkante. Ein Alkoholkranker wie Jens lief außerdem Gefahr, mit einer Flasche im Arm auf einer Treppe einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Das Risiko war groß. Jens könnte erfrieren und für immer all das mit sichnehmen, was eventuell noch in seinen verschrumpelten Hirnwindungen gespeichert war.
Morgen musste Eira sich noch einmal die ’69er-Unterlagen zur Vernehmung von Jens Eide ansehen. Welche Fragen hatte man ihm gestellt?
Es war Zeit, Feierabend zu machen. Aber wie von selbst schlug Eiras Wagen eine völlig andere Richtung ein. Das war nicht der Weg nach Hause. Eira fuhr bereits einige hundert Meter den Kai entlang, als er sich dessen bewusst wurde. Gut, dann würde er eben sehen, ob er Jens aufspüren konnte. Falls der Mann rein körperlich in der Lage dazu war, wollte Eira sich gerne mit ihm unterhalten. Unter Garantie hatte Jens Eiras hundert Kronen in flüssige Nahrung und nicht in eine ordentliche Mahlzeit investiert.
Wo hielt sich dieser Mann auf? In einem schäbigen Bett in einer abrissreifen Bruchbude oder in dunklen Seitenstraßen und Toreinfahrten? In einem der vom Sozialamt bereitgestellten Zimmer in irgendeiner wenig attraktiven Wohneinheit? Oder schlief er einfach abwechselnd bei irgendwelchen Kumpels?
Eira parkte, knöpfte die Jacke bis zum Hals zu und ging langsam in südlicher Richtung den Kai entlang. Er stieg über dicke Seilrollen und passierte Stapel von nassen Holzpaletten. An solchen Orten saß Jens wohl bei schönem Wetter und tankte Sonne und Schnaps. Jetzt aber war die Gegend außergewöhnlich unwirtlich. Die Polarnacht lag wie ein schwarzer Deckel über Tromsø und es war unmöglich zu sehen, ob sich vielleicht irgendwelche Gestalten in Hohlräumen und Nischen versteckten.
Eira atmete feuchte, salzige Luft ein, die mit der Ausdünstung von faulendem Holz und Teer vermischt war. Die Anleger waren nass und glitschig. Eira meinte, noch immer den intensiven Fischgeruch wahrzunehmen, obwohl hier schon seit Jahrzehnten kein Fischerboot mehr festgemacht hatte.
Es machte keinen Sinn, weiter als bis zum Hafendamm zu laufen. Südlich der Gaststätte Ølhallen gab es eigentlich nur noch unbefestigtes Ufer – mit Ausnahme der neuen Wohnkomplexe auf Pfählen draußen im Wasser. Ein interessantes Projekt angesichts schmelzender Pole, dachte Eira und zog die Mütze tiefer in die Stirn.
Es war ebenfalls sinnlos, in den Bars und Kneipen der Stadt nach Jens zu suchen. Einer wie Jens würde nirgendwo hineingelassen werden. Er trank draußen im Freien.
Hier, dachte Eira und blieb am äußersten Rand des Kais stehen.
Diese Stelle war gefährlich. Man konnte leicht ins Wasser fallen, heute genauso wie vor vierzig Jahren. Das Wasser war das ganze Jahr
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