Im Auge des Feuers
über eiskalt. War man zudem noch betrunken, hatte man wohl keine Chance. Eiras Blick fiel auf eine dicke Seilrolle. Er malte sich aus, was man damit alles anstellen konnte. Beispielsweise hätte man mit Hilfe eines solchen Seils bequem und unbemerkt eine Leiche auf hohe See ziehen können.
Eira wurde aus seinen Gedanken gerissen. Hinter ihm knirschte es, als ob jemand auf Glas träte. Schnell drehte er sich um. Hatte sich nicht das Licht einer der Laternen leicht bewegt?
»Hallo?« Eira trat rasch näher an die Laterne heran. »Ist da jemand?« Der Lichtkegel der Lampe war wieder ruhig. Das einzige Geräusch war das Pfeifen des Windes. Eira schüttelte sich und kehrte um. Wenn man erst mal anfing, der Phantasie freien Lauf zu lassen, sah man mehr, als gut war.
Eira hatte den Wind im Rücken, als er den gleichen Weg zurückging. Kein Mensch war hier draußen. Die Anleger bebten zwischen den peitschenden Wellen. Es war ungewöhnlich kalt. Eira steckte die Hände tief in die Taschen und ertappte sich dabei, schneller als sonst zu gehen. Das Gefühl, nicht allein auf dem Kai zu sein, wollte ihn nicht loslassen.Eira ging bis ganz in den Norden nach Skansen weiter, wo das älteste Haus der Stadt stand. Direkt daneben war eines der Gebäude am Kai zu einem Museum umgebaut worden. Ein niedriges, rotes Holzhaus mit einigen Bänken davor. Auf diesen sah er Gestalten sitzen, als sei es ein schöner Sommertag, an dem das Meer spiegelglatt dalag und die Sonne lachte.
Die blaulila Faust um die glänzende Wodkaflasche war im Licht der Straßenlaterne deutlich zu erkennen. Hier saß Jens Eide, zusammen mit zwei jüngeren Obdachlosen.
Als Eira zu ihnen hinüberging, schien Jens ihn nicht wiederzuerkennen. Eira wurde zunächst argwöhnisch fixiert, dann aber als harmloser Fremder angesehen – niemand, mit dem man hätte teilen oder streiten müssen. Sie nahmen keine weitere Notiz von Eira.
»Könnte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten, Jens?«
Die Worte sickerten unheimlich langsam durch Jens’ Gehirnwindungen. Eine lange Minute verstrich, bis eine Reaktion erfolgte. »Häh?«
Eira hatte so etwas erwartet.
»Kommen Sie doch bitte einen Moment hierher, Jens.«
Die roten Augen blinzelten Eira mehrmals verwirrt an, bevor es Jens endlich dämmerte. »Nein, da hol mich doch der Teufel, ist das nicht der Bananen-Mann? Setz dich her, Kumpel, vergiss den Nordwind und genieß die Aussicht aufs Meer. Das hier sind Freunde, nette Leute, bei denen du dich wie zu Hause fühlen kannst.«
Jens zog Eira auf die Bank hinunter, zwischen sich und einen der anderen. Dann schlug er Eira kameradschaftlich auf den Rücken und lachte ihm mit seinem stinkenden Atem heiser ins Gesicht.
»Auch einen Schluck?« Jens hielt Eira die Flasche hin.
»Nein, danke. Ich muss noch fahren.«
»Fahren oder nicht fahren, spielt das eine Rolle? Auf dieser Insel fährt man nie weit. Im Übrigen hast du das ganze Vergnügen bezahlt, Kumpel.« Jens stieß erneut sein gurgelndes, heiseres Lachen aus und Eira bekam zum x-ten Mal an diesem Tag reichlich Alkoholdunst ins Gesicht.
Eira schob die Hand mit der Flasche bestimmt weg. »Können wir jetzt ein bisschen miteinander reden oder sollen wir es auf später verschieben?«
Jens war ernst geworden und sein Kopf hing vornüber. Er suchte offenbar etwas in seinen Taschen, wahrscheinlich die unvermeidliche Tüte mit den Kippen. »Nein, tut mir leid, Kamerad. Im Moment habe ich keine Zeit. Wir feiern hier ein kleines Fest, verstehst du?«
»Damals, ’69, haben Sie und Ihr Bruder da auch hier gesessen? Sie haben Skansen erwähnt.«
Langsam drehte ihm Jens das Gesicht zu und einen Augenblick lang wirkte sein Ausdruck fast klar. »Ja, genau hier. Aber von den anderen lebt keiner mehr. Nur noch ich.«
»Glauben Sie, dass Ihnen weitere Details aus dieser Nacht einfallen werden, wenn wir uns morgen treffen und miteinander reden?«
»Fraglich.«
»Was ist fraglich? Ob wir uns treffen können oder ob Sie sich erinnern?«
Der Betrunkene sah ihn an und wieder hatte es den Anschein, als erlebe er gerade einen lichten Moment. Er strich sich mit einer Hand über das verfilzte Haar. »Ich werde dir was sagen, denn du bist ein verdammt netter Kerl und bist dir für nichts zu fein. Damals … hätte ich mich vielleicht an das eine oder andere erinnern können, wenn ich gewollt hätte.« Er stellte die Flasche vor sich ab. »Ich wurde von einigen Polizisten abgeholt. Höflich waren sie ja. Aber ich hab nach Feuer gestunken und
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