Im Auge des Feuers
genau in der Nacht, als es gebrannt hat. Ich merke mir ja nicht so viel, aber das … Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Eira trat einen Schritt näher. »Hören Sie, darüber haben Sie doch wohl mit der Polizei gesprochen … damals?«
Jens zuckte mit den Schultern. »Ja, schon. Aber ich war ja nicht da. Das hab ich denen auch gesagt.« Er beugte sich weit zu Eira hinüber und senkte die Stimme, sein Atem stank betäubend nach Fäulnis, Schnaps und Tabak. »Unter uns gesagt, als ich dorthin gekommen bin, hab ich mich verdammt darüber gewundert, dass er eine halbe Flasche Wodka stehen gelassen hat. Und es war auch noch echte Ware und nicht dieses selbst gebrannte Zeug. Die Flasche stand einfach da, direkt neben dem Karton, wo er gewöhnlich lag. Jeder, der vorbeikam, hätte sie mitnehmen können.« Er wischte sich die Nase mit dem Jackenärmel ab. »Die Banane hat ganz hervorragend geschmeckt. Lange her, ja. Sie wissen schon, die Lebensmittelpreise schnellen im Moment in die Höhe, vom Preis für flüssige Nahrung gar nicht erst zu reden … he, he.«
Eira reichte ihm die ganze Bananentüte. »Was haben Sie gedacht, als Sie die Schnapsflasche gefunden haben, aber nicht Ihren Bruder?«
»Das hab ich Ihnen ja gerade gesagt. Ich hab mich gewundert.«
Eira vermutete, dass Jens Eide weit hinten in seinem Bewusstsein irgendetwas gespeichert hatte. Etwas, worüber er nie weiter nachgedacht hatte. Offenbar hatte der Alkohol Jens Eides Gehirn in einen beständigen Dämmerzustand versetzt. Wie viele seiner kleinen grauen Zellen waren nach einem langen Leben ständigen Alkoholkonsums überhaupt noch übrig? Eira wusste: Er durfte Jens keine Antwort in den Mund legen, gerade weil der sich so eifrig darum bemühte, es Eira nur irgendwie recht zu machen.
»Was glaubten Sie, wo Ihr Bruder abgeblieben war?«
»Keine Ahnung. Er konnte weggegangen sein, um zu pinkeln, um mit einem Kumpel zu quatschen, um sich was zu essen zu suchen, was auch immer. Aber Sie haben ja gehört, was ich gesagt habe. Er wäre nicht weit weggegangen, ohne die Flasche mitzunehmen.«
»Was haben Sie dann gemacht, als Sie anstelle Ihres Bruders nur die Wodkaflasche fanden?«
Jens Eide musste lange überlegen. »Ich hab bloß da gestanden und gewartet.«
»Und?«
»Es brannte ja wie die Hölle. Nicht wahr? Musste dann irgendwann machen, dass ich wegkomme.«
»Haben Sie nie daran gedacht, dass er sich vielleicht vom Anleger entfernt hatte und hinauf zu dem Gebäude gegangen war, wo Fjeld seine Büros hatte? Es heißt, dass dort ein schöner kleiner Hinterhof war, wo Sie beide oft gesessen und getrunken haben. War er vielleicht sogar ins Gebäude hineingegangen?«
Diesmal kam die Antwort sofort. »Aber wie zum Teufel sollte er dort hineingekommen sein?« Jens Eide schüttelte langsam den Kopf, eine baumelnde, teilnahmslose Bewegung. »Wir hätten ja wohl nicht immer draußen geschlafen, wenn wir gewusst hätten, wie wir da hätten reinkommen können.« Ein heiseres Lachen folgte. »Da hätte uns schon jemand einladen müssen. Und bei meinem Bruder wusste man ja nie.«
Kapitel 52
Eira war zurück im Büro und streifte Mütze und Handschuhe ab. Gleichzeitig wählte er Vennestads Nummer. Es war halb fünf, aber so, wie er Vennestad kannte, war der Pathologe noch nicht nach Hause gegangen.
»Hören Sie, Sie haben doch DNA-Proben des unbekannten Toten, der fälschlicherweise unter Karl Fjelds Namen beerdigt worden ist?«
»Richtig, Eira. Wir haben herausgefunden, dass nicht einmal ein Verwandtschaftsverhältnis zur Familie Fjeld vorlag. Wir konnten den Toten nicht identifizieren.«
Eira trat von einem Bein aufs andere, während er darauf wartete, dass Vennestad auf seine langsame, umständliche Art zu Ende gesprochen hatte.
»Wenn Sie eine Blutprobe von jemandem bekommen, der heute lebt, dann könnten Sie doch feststellen, ob eine Verwandtschaft vorliegt, oder? Auch wenn der Unbekannte schon seit Jahrzehnten tot ist?«
»Durchaus.« Vennestad schwieg einen Moment. »Ich werde mich nicht nach dem Grund für diese Fragen erkundigen, Eira. Wenn ich Sie recht interpretiere, habe ich die Antwort in Kürze auf dem Tisch.«
Damit hatte er recht, allerdings nur, falls Jens bereit war, eine Blutprobe abzugeben.
Ich hab bloß da gestanden, hatte Jens gesagt. Das war seine Erinnerung an den Brand von 1969. Offenbar war Jens genau zu dem Zeitpunkt vor Ort gewesen, als sich rund um Fjelds Bürogebäude allerhand zugetragen hatte. Eira stellte sich
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