Im Auge des Feuers
haben wohl nicht zufällig ein paar Kronen übrig, damit ich den Bus nach Hause nehmen kann?«
Der Mann hatte eine Gesichtshaut wie altes Leder und eine Nase, die offenbar im Erwachsenenalter ungehemmt weitergewachsen war. Dunkelrote Blutgefäße zeichneten sich wie haarfeine Flüsse auf einer alten Landkarte ab. Er musste schon lange einfach nur noch vor sich hinvegetierten. Er war krumm und knochig und trug viel zu dünne, abgewetzte Kleidung. Sie stank beißend. Die blaulila Hand, die er ausstreckte, schien den eisigen Wind, der heute den Kai entlangpeitschte, nicht mehr zu spüren.
Eira fragte sich, wie der Mann es wohl all die Jahre geschafft hatte, es in seiner ganz privaten Hölle auszuhalten. »Mit ein paar Kronen kommen Sie mit dem Bus nicht weit.« Eira steckte die Hand in eine der Einkaufstüten und zog eine Banane heraus. »Nehmen Sie die, während ich nachsehe, was ich außerdem noch für Sie finden kann.«
»Eine Banane ? So was hab ich bestimmt seit hundert Jahren nicht mehr gegessen.« Mit seinen steifgefrorenen Fingern begann Jens Eide unbeholfen, das Stück Obst zu schälen. Er grinste breit. »He, he … Vitamine! Gut für Leute wie mich.« Abgesehen von ein paar Eckzähnen fehlte das meiste von seinem Gebiss.
Jens nahm einen Riesenbissen und schluckte ihn fast unzerkaut hinunter. »Den mit dem Hund kennen Sie auch, nicht wahr? Netter Kerl, kann ich Ihnen sagen. Sehr spendabel, genau wie Sie.« Er griff nach dem Hundert-Kronen-Schein, den Eira ihm entgegenhielt, und lachte heiser. Dann wurde er von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. »Aber was zu rauchen haben Sie wohl nicht?«
Eira verneinte. »Woher kennen Sie Sverre?«
»Ich habe seinen Vater gekannt – Oscar Wikan.« Jens holte ein dünnes Tabakpäckchen heraus, in dem er kleine, von der Straße aufgelesene Zigarettenstummel aufbewahrte. »Mein Bruder und ich – ja, wir waren beide für die starken Sachen, wissen Sie. Wir kannten seinen Vater.« Er hatte einen winzigen Stummel hervorgekramt, den er anzündete. Eira verfolgte fasziniert jede Bewegung des Mannes und fragte sich, wie viele Züge er wohl nehmen konnte, bevor er sich die Lippen verbrennen würde.
»Wissen Sie …«, Jens nahm die Kippe aus dem Mund und betrachtete sie, »sein Vater war ein bisschen … rot angehaucht, deshalb hat er nichts dazu gesagt, dass mein Bruder und ich … wir gehörten ja zum echten Proletariat der Stadt … dass wir uns im Sommer manchmal in einigen Kartons bei den Anlegern oder im Hinterhof von Fjelds Bürohaus schlafen gelegt haben. Dort war esrichtig gemütlich, mit etwas Zeitungspapier und Wellpappe fühlten wir uns wie in einem Himmelbett.«
Er nahm einen letzten Lungenzug und schaute traurig auf den verglimmenden Rest des Stummels. »Nach diesem mörderischen Brand hat sich alles verändert. Jetzt ist es da drüben so was von sauber und ordentlich, dass man sich nirgendwo mehr zum Schlafen hinlegen kann, ohne gleich entdeckt und natürlich verjagt zu werden.«
»Wo ist Ihr Bruder?«
Jens stierte Eira mit glasigen, rot geränderten Augen an. »Ja, wer das wüsste«, sagte er nur.
»Wie meinen Sie das?«
Jens warf die Kippe, die jetzt nicht viel mehr als reine Glut war, ins Wasser und verlor dabei fast das Gleichgewicht. »Er ist vor langer Zeit verschwunden.«
Er stützte sich auf Eiras Motorhaube. »Wir haben mit ein paar Kumpels drüben in Skansen zusammengesessen und getrunken. Hatten einen richtig schönen Abend, ein nettes, kleines Gelage mit ungewöhnlich gutem Wodka.« Er holte die Tüte mit den Kippen heraus und begann wieder, darin herumzuwühlen. »Ein portugiesischer Rostkahn, der ein paar Tage am Kai lag, hatte einen hübschen Nebenerwerb zu seiner Fischerei. Man kommt nicht jeden Tag so billig an so guten Schnaps.«
Eira betrachtete Jens Eides blaulila Hände. Die Ärmel der dünnen Jacke endeten fünf Zentimeter über den Handgelenken. Eira fröstelte, zog sich die Mütze tiefer über die Ohren und kramte in den Taschen nach seinen Handschuhen. Es half nichts – er fror ja nicht wegen des Schnees.
»Ist Ihrem Bruder etwas passiert?«, hakte Eira nach, weil Jens das Thema schon vergessen zu haben schien.
Der Mann sah überrascht zu Eira auf. »Ach, das. Er fing einen so heftigen Streit mit einem der anderen an, dass er sich bald ausdem Staub gemacht hat. Hat gesagt, er geht lieber schlafen. Und das konnte man ja zu der Zeit am besten beim Fjeld-Kai.« Jens starrte verwundert in die leere Luft. »Das war übrigens
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