Im Auge des Feuers
Gefahr, dass seine Schwester ein zwei Jahre altes Männermagazin aufschlagen würde, war geringer, als dass sie versuchen würde, abgeschlossene Schubladen mit ihrem Pfennigabsatz aufzubrechen. Wikan rührte solche Zeitschriften nicht an. Er nannte sie »den organisierten Verkauf von Frauen durch das Großkapital«.
In dem Umschlag lagen die Briefe, die sie geschrieben hatte. Mit zierlicher Handschrift in einem unnatürlichen, förmlichen Stil. Sie waren für die Öffentlichkeit bestimmt, wie Karl beim Lesen sofort begriffen hatte. Und sie enthielten die unsägliche Behauptung, sie sei schwanger, die Forderung nach Heirat, nach Geld. Drohungen mit »Enthüllungen«.
Karl blätterte alles schnell durch und versuchte, sich zu erinnern, wann es begonnen hatte. Der Anfang war hauchzart und betörend gewesen. Aber nach und nach war sie zu knallharten Erpressungen übergegangen, wenn es nicht nach ihrem Willen lief. Sie ließ ihn nie mehr in Frieden, selbst nachts tauchte sie auf. Vor allen anderen verbarg sie geschickt, wie sehr sie ihn unter Druck setzte. Keiner ahnte, wie es hinter ihrer sanften, schönen Fassade aussah. Er hatte nach einer Lösung gesucht. Eine Möglichkeit wäre gewesen, sie zu töten. Und die Götter wussten, dass er mit dem Gedanken gespielt hatte. Die Lösung aller Probleme aberwäre, schlichtweg bei großen Versprechungen zu bleiben und zu flüchten. Er hatte jetzt Geld genug.
Der Metallschrank, der die Buchhaltungspapiere enthielt, war geöffnet worden. Konnte so ein Schrank einen Brand überstehen? Bei diesem Gedanken begann er zu schwitzen. Er steckte den Umschlag mit ihren Briefen in die Tasche und hängte den Mantel in den Flur. Dann ging er systematisch ans Werk. Stapelte die Geschäftsbücher auf dem Boden zu einem Haufen. Nichts durfte das Feuer überleben.
Durch den Lärm hindurch registrierte er, dass unten eine Tür geöffnet wurde. Schnelle Schritte auf der Treppe.
Dann klopfte sie an die Tür.
Kapitel 3
15. Oktober 2007
Karl Fjeld verließ den Friedhof und wanderte mehrere Stunden in der Stadt umher. Er fand ein einladendes Restaurant in der Kirkegata: Emmas Wunder . Angesichts seiner von jeher bestehenden Schwäche für Frauen lockte ihn der Name hinein. Er setzte sich ans Fenster, aß, trank dazu Wein und betrachtete die Domkirche. Der Wein wärmte. Karl genoss die Zuwendung der Kellnerin und die beste Mahlzeit seit Tagen.
Der Schock, den er auf dem Friedhof erlitten hatte, ließ endlich nach. Ganz sicher hatte der Trauerflor schon länger dort gehangen. Draußen war es schließlich stockfinster gewesen. Er selbst war zuvor sicherlich nicht aufmerksam genug gewesen und hatte sich allzu sehr den Grübeleien hingegeben. Bestimmt nur ein Kinderstreich. Karl schob alle Gedanken daran beiseite.
Eine Weile hatte er, genau wie alle anderen, geglaubt, seine Vergangenheit sei seit jenem Maitag im Jahr 1969 ein abgeschlossenes Kapitel. Nun wusste er, dass das nicht stimmte. Ein Teil von ihm hatte die Stadt nie verlassen.
Es war nach Mitternacht, als er zum Hafen hinunterging und schließlich an der Ecke eines neuen Einkaufscenters stehen blieb. Prächtig und modern lag es direkt am Rand des Kais und war hoch genug, um die Aussicht auf den Sund zu versperren. Das Grundstück unmittelbar dahinter befand sich wahrscheinlich immer noch im Besitz der Familie. Viertausend Quadratmeter mitten im Zentrum waren viel wert. Hier standen noch Reste der Holzbebauung, die der Brand 1969 nicht hatte vernichten können. Ohnehin waren sie marode und altmodisch gewesen. Nunwirkten sie neben der gewaltigen Fassade des riesigen Nachbargebäudes noch geduckter.
Als er jung war und im Betrieb des Vaters arbeitete, hatte er beinahe den gesamten Besitz verspielt. Wollte schnell reich werden, seinem Vater beweisen, dass er fähiger war, als irgendjemand ahnte. In Wahrheit hatte Karl sein zwiegespaltenes Inneres gehasst. Er verabscheute den permanenten Druck, erfolgreich sein zu müssen, auch in den Dingen, die ihn eigentlich überforderten.
Er ging zum Rand des Kais und betrachtete den Neubau. Helles Holz und Stahl, genau wie Tausende von Gebäuden dort, wo er herkam, auf der anderen Seite des Globus.
Ein scharfer Wind blies vom Sund und die Kälte ließ Karls Gesicht taub werden. Trotzdem fühlte er sich erhitzt und aufgewühlt. Er atmete ein, füllte die Lunge mit feuchtem Dunst vom Meer und spürte wieder das Brennen in den Atemwegen.
Fast vierzig Jahre hatte er in einer Großstadt gelebt, die eine
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