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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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wir noch einmal nach dem Arzt
telefonieren?«
    »Ich weiß es nicht. Ich werde sehen.«
Sie eilte die Treppe weiter hinunter, ehe ich etwas erwidern konnte.
     
    Andrew las in einem Comics-Buch. Mir
schien, daß er ungewöhnlich viel Zeit im Bett verbrachte. Für einen elfjährigen
Jungen war es nicht gesund, sich mit Kissen, Laken und Decken vor der Welt zu
verschließen. Das war ein gefährliches Fluchtverhalten, das er besser den
Erwachsenen überließ.
    Als er mich in der Tür stehen sah,
sagte er voll Verachtung: »Ach, du bist es.«
    »Bist du wütend auf mich?«
    »Warum sollte ich?«
    »Weil ich die Zeichnungen nicht holen
gekommen bin.«
    Er zuckte mit den Achseln. »Nein. Mom
sagte, du hättest dich nach dem Abendessen gestern nicht gut gefühlt, und
außerdem sind es ja nur ein paar dumme Zeichnungen von mir.«
    »Ich will mich nicht entschuldigen,
Andrew. Ich fühlte mich nicht wohl, und ich hab’s vergessen. Tut mir leid.«
    »Ach, es ist schon gut.« Seine Worte
klangen als habe er sie in seinem kurzen Leben schon oft gesagt, und plötzlich
erkannte ich schlagartig, was mit Andrew los war. Er war das älteste Kind einer
alleinerziehenden Mutter, der Bruder der frühreifen Kelley und der charmanten
Jessamyn. Als Patsy keinen Mann im Haus hatte, wurde Andrew diese Position
übertragen, und vermutlich mußte er eine Menge Verantwortung für seine beiden
Schwestern auf seinen knochigen Schultern tragen. Als Patsy Evans begegnete,
wurde Andrew in eine niedrige Klasse zurückversetzt, und die Aufmerksamkeit
seiner Mutter wandte sich von ihm ab und ihrer neuen Liebe zu. Da zog sich der
introvertierte Junge noch mehr in sich selbst zurück und verbarg seine
Verletzlichkeit hinter einem Wall aus Bettdecken und Comics-Büchern und
gelegentlich auch hinter Feindseligkeit. Es tat mir in der Seele weh, aber ich
wußte, daß Mitleid das letzte war, was er wollte.
    »Ich brauche deine Zeichnungen«, sagte
ich. »Sie sind jetzt noch wichtiger als vorher.«
    »Wieso?«
    »Es muß unser Geheimnis bleiben.«
    »Ich werd es nicht verraten.«
    Ich war überzeugt, daß das stimmte. Es
war ein gutes Gefühl, ihn zum Verbündeten zu haben, obwohl er noch so jung war.
»Also — ich habe den Einsiedler heute nacht gesehen. Ich meine, ich sah die
Person, die ihn spielt.«
    »Wo?«
    »In der Bibliothek.« Ich erzählte, was
ich erlebt hatte, und schloß mit den Worten: »Jetzt verstehst du, warum deine
Zeichnungen so wichtig sind.«
    Andrews schmales Gesicht war vor
Aufregung gerötet. Er sprang aus dem Bett und holte den Zeichenblock aus einer
Schublade. Ich setzte mich auf die Bettkante und blätterte in ihm.
    Die Zeichnungen waren bemerkenswert
gut, die Gestalt sehr lebensnah. Sie ähnelten dem Mann, der mich am Landesteg
angegriffen hatte: groß, in einem weiten Regenmantel mit Schlapphut. Das
Problem war nur, sie verrieten mir nichts Neues.
    Ich wollte Andrew meine Enttäuschung
nicht anmerken lassen. Deshalb betrachtete ich alle Zeichnungen noch einmal
aufmerksam. Dann sagte ich: »Ich habe eine Idee. Kannst du noch mehr
Zeichnungen machen? Fang mit dem Augenblick an, als du ihn am Fenster sahst.«
    »Das war nur eine Hand.«
    »Zeichne die Hand! Wenn du sie erst mal
auf dem Papier hast, siehst du vielleicht das Gesicht dazu.«
    »Du meinst, als hätte man ein Gesicht
vergessen, das dann wiederauftaucht?«
    »Ja.«
    »Okay.«
    Als ich aus dem Zimmer ging, holte
Andrew schon eine große Schachtel mit Filzstiften und einen neuen Block aus der
Schublade.
    Ich wanderte den Gang entlang zu
Angelas Büro und klopfte. Ihr »Herein« klang kurz angebunden, und als sie sah,
daß ich es war, warf sie mir einen zornigen Blick zu.
    »Ich störe Sie nicht lange«, sagte ich.
»Ich brauche nur Name und Telefonnummer des Anwalts in Antioch — der das andere
Gebot auf den Besitz machte.«
    »Oh.« Sie wandte sich ihrer Kartei zu,
schrieb dann etwas auf einen Block und reichte mir den Zettel. Ich bedankte
mich, erkundigte mich nach dem Großvater, erhielt eine Abfuhr und machte, daß
ich davonkam. Was hat Sam über sie gesagt? Irgend etwas in der Richtung, daß
sie nicht offen sein könnte. Er hatte recht.
    Ich benützte den Apparat in der
Bibliothek, um den Anwalt — Edward Peeples — anzurufen. Seine Sekretärin teilte
mir mit, daß er auf dem Gericht sei. Sie gab mir einen Termin für drei Uhr. Ich
war erleichtert, daß sich die Sache nicht am Telefon besprechen ließ, denn ich
hatte große Sehnsucht, einmal eine Weile von der Insel

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