Im Auge des Orkans
wollte immer eine Familie
haben. Eine Zeitlang hatte ich Angst, die Zeit dafür wäre vorbei. Und dann traf
ich Patsy, und sie brachte sozusagen eine fertige Familie mit.« Seine Worte
klangen so offen und herzlich, daß er mir immer mehr gefiel. Evans trat zum
Herd und stellte eine Eisenpfanne aufs Feuer. »Sind Sie hungrig?«
»Noch nicht.« Mein Verdauungssystem war
für das Frühstück nicht bereit. Schließlich hatte ich noch vor einer Stunde
einen Brandy getrunken. »Ich gehe erst mal rauf und ziehe mich an.« In meinem
Zimmer schloß ich die Tür ab und nahm die Waffe mit ins Badezimmer. Ich duschte
mich ausgiebig und massierte mich mit dem Massagekopf. Unter der Dusche kommen
mir meistens die besten Gedanken. So war es auch heute. Als ich mich
abtrocknete, hatte ich einen Plan — zumindest für den Vormittag.
Die Frage, was ich anziehen sollte,
wurde allmählich zum Problem. Ich reise gern mit leichtem Gepäck, und durch
meine Abenteuer auf dem Wasser waren ein Paar Jeans und mein grüner
Lieblingspullover verdorben. Dann entdeckte ich zu meiner Erleichterung, daß
sie nicht im Schrank lagen. Patsy hatte sie wohl mitgenommen, um sie zu waschen
und zu bügeln.
Die Jeans vom Vortag waren durchaus
noch ansehnlich, und dann hatte ich noch den rosafarbenen Häkelpullover, den
mir Tante Margaret aus Minnesota letztes Jahr geschickt hatte. Die warme Farbe
tat meinem Gesicht gut, denn ich sah wirklich sehr blaß aus.
Die Waffe war immer noch ein Problem.
Schließlich schob ich sie in das Außenfach meiner Handtasche. Ich hatte nicht
vor, sofort wegzugehen, aber es würde nicht komisch aussehen, wenn ich sie
mitnahm, weil ich irgendwann ausgehen wollte.
In der Halle unten traf ich auf Denny,
der gerade hereinkam. Ich wünschte guten Morgen und fragte, ob er Angela
gesehen habe. »Ja, ich habe sie eben mit der Fähre hinübergebracht. Ihr
Großvater braucht irgend etwas aus seinem Haus in Locke.«
»Wie geht es Mr. Won?« Wegen ihm hatte
ich Angela sprechen wollen, weil ich dem alten Mann gern noch ein paar Fragen
gestellt hätte, falls er sich kräftig genug fühlte, sie mir zu beantworten. Ich
hatte den Eindruck, daß er bei unserer ersten Begegnung mit irgend etwas hinter
dem Berg gehalten hatte. Außerdem hätte ich gern erfahren, wie viele Leute im
Delta von Louise Applebys illegitimen Sohn und ihrem Verschwinden wußten.
Denny machte ein besorgtes Gesicht.
»Nicht so gut, sagt Angela. Als er das Rad seines Lasters wechseln mußte, ist
er tropfnaß geworden. Und in seinem Alter — «
»Sollen wir den Arzt holen?«
»Angela hat versucht, ihn zu erreichen.
Er ist in einem Notfall unterwegs. Wahrscheinlich würde sich der Alte sowieso
nicht untersuchen lassen. Angela sagt, er haßt Ärzte.«
»Geben Sie mir Bescheid, wenn sie
zurück ist? Und ich würde gern später zur anderen Seite hinüberfahren, wenn es
Ihnen nichts ausmacht.«
»Natürlich nicht. Ich habe nichts zu
tun.«
»Wieso nicht?«
»Ich habe noch nicht das Material
kaufen können, das ich für die Innenreparaturen brauche. Das nächste Projekt
war der Bau der Schiffslände, aber ich habe keine Arbeiter. Außerdem ist bei
diesem Regen sowieso nichts zu wollen.«
»Wieso, regnet es schon wieder?«
»Noch nicht.«
»Bejamin Ma war besorgt, daß es einen
Orkan geben könnte.«
»Der muß es ja wissen. Er hat mir
erzählt, daß er sein ganzes Leben hier verbracht hat. Seine Familie gehörte zu
den ersten Siedlern in der Walnut Grove, später zog sie nach Locke.«
»Hält das Haus einem schlimmen Sturm
stand?«
»Warum nicht — es steht schon seit
hundert Jahren da.« Denny grinste beruhigend und ging ins Wohnzimmer.
Inzwischen war es halb neun Uhr
geworden. Ich ging in die Küche und zwang mich, ordentlich zu frühstücken.
Patsy, Kelley und Jessamyn waren auch da, und wir schwatzten eine Weile über so
unverdächtige Themen wie die Schule, Evans’ und Patsys erste Begegnung, ihren
Plan, einen neuen Bus zu kaufen, sie waren wirklich eine richtige Familie. Das
einzige Familienmitglied, das mir Sorgen machte, war Andrew.
Als ich nach ihm fragte, sagte Patsy:
»Er ist im Bett und trotzt wieder. Ich glaube, es ist deine Schuld, weil du
gestern wegen der Zeichnungen nicht wiedergekommen bist.«
»Mein Gott, das hatte ich ganz
vergessen!«
Auf meinem Weg hinunter begegnete ich
Angela und Denny. Angela trug eine Plastiktüte und sah besorgt und müde aus.
»Wie geht es Ihrem Großvater, Angela?« fragte ich.
»Nicht sehr gut.«
»Sollten
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