Im Augenblick der Angst
irgendeinen Umstand, unter dem er sie für ein, zwei Minuten allein lassen würde.
Auf einmal wusste sie es, und die bittere Ironie der Situation ließ sie innerlich zusammenzucken. Um wirklich überzeugend zu sein, mussten sie beide mitspielen. Anna klappte das Handy zu und legte sich eine Hand auf den Bauch. Und betete, dass Tom begreifen würde.
Tom sehnte sich nach einer weiteren Zigarette. Es war schon erstaunlich: Nach fünfzehn Monaten Pause war seine Nikotintoleranz passé, und er fühlte sich wieder wie damals, nach seinen ersten Kippen vor über einem Jahrzehnt – ein Kribbeln in den Fingerspitzen, eine angenehme Leichtigkeit im Kopf. Nur an seiner Sucht hatten die fünfzehn Monate rein gar nichts geändert.
Halden barg die Hände in den Taschen. »Wo ist das Geld?«
Tom zögerte. Nun musste er ihr letztes Geheimnis preisgeben. »In einem gemieteten Lagerraum, nicht weit von der Mall.«
»Okay. Wir holen es auf dem Weg zum Präsidium ab.«
Anna steckte das Telefon ein und trat wieder zu Halden und ihm. Ihre Augen suchten die seinen, und Tom hatte das Gefühl, dass er irgendetwas in ihnen sah, aber während er noch rätselte, hatte sie sich schon Halden zugewandt. »Bitte entschuldigen Sie«, sagte sie. Tom fiel auf, dass sie eine Hand auf den Bauch gelegt hatte. »Das war meine Schwester. Sie fängt gerade an, ihrem kleinen Sohn feste Nahrung zu füttern, und jetzt hat er anscheinend ihre komplette Küche mit einer Schicht pürierter Zucchini bedeckt.«
»Zucchini?« Halden lachte. »Warum macht man Babynahrung eigentlich immer aus dem widerlichsten Zeug? Das würde ich auch nicht bei mir behalten.«
War es ein Fehler gewesen, fragte sich Tom, dem Detective zu sagen, wo das Geld war? Wenn die Cops es erst mal in den Händen hielten, hatten sie ihr einziges Druckmittel verloren. Vielleicht konnten sie ja …
Zucchini?
Tom schaute wieder zu Anna, und sie erwiderte seinen Blick. Sie war blass, zu blass, selbst für diese niedrigen Temperaturen. Konnte es mit dem Telefonanruf zu tun haben? Jetzt legte sie auch noch die andere Hand auf den Bauch und zuckte zusammen, als hätte sie Schmerzen.
»Alles in Ordnung, Liebling?«, fragte Tom.
»Ja, ja, mir ist nur ein bisschen übel.«
Halden musterte sie. »Wahrscheinlich die Nerven. Aber glauben Sie mir, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen.«
Anna schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Ich –« Sie blickte Tom in die Augen.
War es ein Zufall, dass sie eben ihr altes Codewort verwendet hatte – das Wort, das den anderen aufforderte, zur Rettung zu eilen? Tom starrte sie an. Annas Haltung wirkte fast flehentlich. Sie strich sich mit beiden Händen über den Bauch – und plötzlich wusste er, was sie meinte.
»Es ist das Baby«, sagte Tom, »Schwangerschaftserbrechen.« Das Wort fühlte sich fremd an auf seiner Zunge – dabei hatte er sich einmal darauf gefreut, es auszusprechen und damit den Beginn eines ganz neuen Lebensabschnitts zu markieren.
»Sie sind schwanger?« Der Detective wirkte überrascht.
»Ja«, bestätigte Anna mit zitternder Stimme. Irgendetwas Schreckliches musste vorgefallen sein. Aber was?
»Ich weiß zwar nicht, warum es Schwangerschaftserbrechen heißt«, meinte Tom, während er sich an die vielen Bücher für werdende Eltern erinnerte, die sie gemeinsam gelesen hatten. »Denn brechen muss man Gott sei Dank nicht jedes Mal.« Er trat einen Schritt vor, legte eine Hand um Annas Schultern und nickte in Richtung Imbissbude. »Vielleicht sind die Toiletten geöffnet. Würden Sie uns kurz entschuldigen, Detective? Wird nicht lange dauern.«
Halden nickte. »Aber natürlich.«
»Danke«, sagte Anna. Sie wirkte wirklich angegriffen. Tom stützte sie, während sie langsam auf die Imbissbude zugingen. Sie passierten die Theke mit der geschlossenen Metalljalousie und bogen um die Ecke. Die Toiletten waren auf der Rückseite. Toms Gedanken überstürzten sich, doch er kam einfach nicht darauf, was sie dazu verleitet haben mochte, ausgerechnet diese Lüge zu erzählen.
Halden sah zu, wie Tom seine Frau auf dem Weg zu den Toiletten stützte. Als sie um die Ecke verschwunden waren, drehte er sich um und blickte hinaus auf den See. Er atmete die frische Luft ein, lauschte dem Rauschen des Wassers, beobachtete die trägen Wellen. Und genoss das zufriedene Lächeln, das sich langsam auf seinen Lippen ausbreitete.
Er war aber auch ein verdammt guter Detective.
Auf eigene Faust den Shooting-Star-Raub
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