Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
Vom Netzwerk:
blass. Noch aus drei Metern Entfernung konnte Jack ihren Angstschweiß riechen. »Bitte.«
    »Bitte was?«
    »Er ist nur. Er ist. Bitte. Mein Sohn.«
    Jack sah hinab auf das Baby in seinem linken Arm. Ein süßer kleiner Kerl mit dicken Backen und großen, neugierigen Augen. »Keine Sorge«, antwortete er. »Bald ist es vorbei.« Er schaute auf und erwiderte den Blick der Mutter. »Versprochen.«
     

20
     
    Tom hatte diese Straße schon unzählige Male gesehen, aber heute wirkte alles wie verwandelt – heller und schärfer, deutlicher. Jedes einzelne Blatt an den Bäumen konnte er bis ins Detail erkennen, wie auf dem Objektträger eines Mikroskops. Die Klarheit war überwältigend.
    »Hast du den Schlüssel?« Anna klammerte sich ans Lenkrad, während Tom auf seine rechte Hosentasche klopfte und versuchte, nicht vor Nervosität mit den Knien zu wippen.
    Als sie den Lake Shore Drive in südlicher Richtung entlanggefahren waren, hatte er nur darauf gewartet, dass jeden Moment Blaulichter in ihrem Rücken aufblitzten. Er hatte gespürt, wie viel Überwindung es Anna kostete, nicht das Gas durchzudrücken, sondern dieselben zehn Stundenkilometer über dem Tempolimit einzuhalten, die jeder fuhr.
    »Ich mach das«, hatte Tom gesagt. »Ich bringe es ihm.«
    »Nein, wir machen das gemeinsam.«
    Diesen Ton kannte er, weshalb er nicht weiter dagegen angeredet hatte. Stattdessen schmiedete er im Stillen einen Plan: Nachdem sie das Geld abgeholt hatten, würde er schnell ins Auto springen, die Türen verriegeln und Anna allein beim Lager zurücklassen. Sie mussten schließlich nicht beide wie die Schafe zur Schlachtbank trotten.
    Aber dann hatte sie eine bessere Idee gehabt – eine ganz einfache, elegante Idee, die für Saras und Julians Leben garantieren würde. Der Nachteil war, dass Anna und er in der Scheiße sitzen würden. Aber für manche Dinge lohnte es sich eben zu kämpfen – und zu sterben, falls nötig. Trotzdem, es war schon faszinierend: Jetzt, wo alles andere dahin war, ging es nur noch um sie zwei. Entweder sie schafften es gemeinsam, oder sie gingen gemeinsam unter. Und genau das hatte er sich doch vor gar nicht so langer Zeit gewünscht: dass es wieder so sein könnte wie früher – Anna und er gegen den Rest der Welt.
    Pass auf, was du dir wünschst. Es könnte in Erfüllung gehen. »Da ist eine Lücke«, sagte Tom.
    Mit einem kurzen Nicken lenkte Anna den Pontiac auf die Seite, legte den Rückwärtsgang ein und parkte. Es war eine gute Stelle, in der richtigen Straße, auf halbem Weg zu Saras Wohnung, aber weit genug entfernt für ihre Zwecke.
    Anna stellte den Motor ab, und Tom fühlte sich, als hätte sie damit eine Drüse in seinem Kopf aktiviert, die plötzlich wie wild Botenstoffe ausschüttete. Seine Finger kribbelten, seine Achselhöhlen wurden nass. Langsam atmete er ein und aus. Natürlich wollte er zu allem bereit sein, aber andererseits nicht so tief im Kampf-oder-Flucht-Verhalten stecken, dass er bloß noch ein Nervenbündel war. Währenddessen klappte Anna ihr Handy auf, schloss es wieder und platzierte es im Cupholder. Sie warf einen Blick auf die Uhr, auf die Sträucher an der Straße, auf die Chicago-Cubs-Flagge, die auf einer Terrasse flatterte. Überallhin, nur nicht auf ihn.
    »Es wird schon gut gehen«, sagte Tom, ohne es zu glauben. »Wenn er erst mal sein Geld hat, muss er uns nicht mehr umbringen.«
    Anna drehte sich mit zitternden Lippen zu ihm, zögerte eine Sekunde lang – dann warf sie sich auf ihn, schlang die Arme um seinen Hals und Rücken und presste sich an ihn, als wollte sie nie wieder loslassen. »Ich liebe dich, mein Gott, ich liebe dich so sehr.«
    Tom lächelte an ihrem Hals und strich mit den Fingern durch ihr Haar. »Ruhig, ganz ruhig«
    Sie hielten sich noch einen Augenblick fest, bis Anna sich zurücklehnte. »Wenn wir das schaffen, werde ich nie wieder –«
    »Ich weiß«, erwiderte Tom. »Ich auch nicht.« Er schaute auf die Uhr: Es war schon eine halbe Stunde her, dass sie den Strand verlassen hatten, und er wünschte sich nichts mehr, als einfach hierzubleiben. »Es ist Zeit.«
    Anna wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen, atmete bibbernd ein, dann entschlossener. Sie klappte das Telefon auf und drückte drei Tasten. »Ich bin bereit.«
    Tom nickte, während sich eine ungesunde Hitze in seinen Eingeweiden breitmachte. Er öffnete die quietschende Fahrertür und stellte einen Fuß auf die Straße.
    »Tom.« Sie sprach wie hinter einem

Weitere Kostenlose Bücher