Im Augenblick der Angst
Schleier, als müsste sie ihre Gefühle mit aller Kraft beherrschen. Tom drehte sich um und zwang sich ihr zuliebe zu einem Lächeln. Auch Anna rang sich ein dünnes Lächeln ab, ihre Augen leuchteten schwach. »Pass auf dich auf, mein Liebling.«
Er zwinkerte ihr zu, schloss schnell die Tür hinter sich und lief den Gehsteig hinab, bevor er doch noch die Nerven verlor. Die Wolfram Street war ein ruhiger Flecken, gesäumt von Bäumen und mehrstöckigen Wohnblöcken, dazwischen vereinzelte Einfamilienhäuser. Tom erinnerte sich daran, wie sie Sara beim Umzug geholfen hatten – den Futon mussten sie hochkant durch die Tür schieben, ein gigantischer, mindestens tausend Pfund schwerer Schrank wollte die Treppe hinaufgeschafft werden. Völlig verschwitzt waren sie danach in eine Bar an der Ecke gegangen, die Sara kannte, ins Delilah’s, wo wirklich gute Musik gespielt wurde. Zu dritt hatten sie Old Style und Jim Beam gekippt, gelacht und mitgesungen.
Tom wischte diese Gedanken beiseite. Es stand zu viel auf dem Spiel, um nicht hundertprozentig präsent zu sein. Die Wolkendecke hatte sich etwas aufgelockert, stellenweise stahl sich die Sonne durch die Blätter der Bäume. Toms Mund war ausgetrocknet, seine Beine fühlten sich viel zu leicht an. Er grub in seiner Tasche und holte den Schlüssel hervor, umschloss ihn fest mit seiner guten Hand. Die Rollos in Saras Wohnung waren allesamt heruntergelassen, aber er glaubte, hinter einem Fenster eine Bewegung zu erkennen. Sein Herz klopfte, als wollte es durch seine Rippen brechen.
Er trat auf die Veranda.
Anna blickte ihm hinterher, wie er die Straße hinablief, und mit jedem Schritt wickelte sich eine weitere Schlinge Stacheldraht um ihr Herz. Die ganze Zeit waren sie Dingen hinterhergejagt, die sie scheinbar unbedingt besitzen mussten, und hatten darüber vergessen, was sie bereits besaßen. Nie wieder. Sie wiederholte die beiden Worte pausenlos im Kopf, wie ein Mantra, das ihren Mann beschützen und sicher zu ihr zurückbringen sollte. Das war alles, was sie jetzt noch wollte.
Aber es würde nicht in Erfüllung gehen. Ganz egal, wie begeistert sie sich eben noch in die Tasche gelogen hatten – Jack würde sie nie am Leben lassen. Keine Chance. Aber wenigstens konnten sie Sara und Julian retten.
Mit dem Telefon in der Hand ließ sie sich im Sitz nach unten rutschen, bis sie gerade noch erkennen konnte, wie Tom die Stufen zu Saras Veranda hinaufstieg. Die Tür schwang sofort auf. Im Inneren konnte Anna nichts erkennen, aber sie beobachtete, wie ihr wunderschöner Ehemann den Schlüssel in die Höhe hielt. Ganz ruhig stand er da, ruhig und stark, als wäre es die einfachste Entscheidung der Welt, sein Leben gegen das seiner Familie einzutauschen. Noch nie hatte Anna ihn so sehr geliebt wie in diesem Moment, in dem sie ihn unweigerlich verlieren würde.
Eine merkwürdige Ruhe legte sich auf Tom. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht mit dem Monster, war die Angst zwar immer noch da, ja, sie war ein Teil dieses Moments wie die Luft, die er atmete, aber sie schien nicht mehr zu Tom zu gehören. Er hielt die Hand mit dem Schlüssel hoch und bemühte sich, nicht zu zittern.
Jack stand mit verschränkten Armen in der Tür. Auf der weißen Mullbinde um seinen linken Unterarm entdeckte Tom einige tiefrote Blutflecken. Sämtliche Rollos waren heruntergelassen, der Hausflur lag im Halbdunkel, aber es war hell genug, um Jacks Schulterhalfter zu erkennen, und um zu sehen, dass seine Finger wie zufällig auf dem Pistolengriff ruhten. Der endlose Augenblick lud sich auf wie eine Stromleitung, bis die Luft vor Anspannung knisterte.
Endlich sagte Jack: »Und dein Frauchen?«
»Anna schaut aus sicherer Entfernung zu. Mit dem Telefon in der Hand. Der Notruf ist schon gewählt.«
»In sicherer Entfernung also?« Jack lächelte leicht irritiert, beugte sich vor und blickte rechts und links die Straße hinunter. »Natürlich konntet ihr mir das Geld nicht einfach bringen, oder? Ihr zwei müsst immer alles verkomplizieren.«
»Nein, im Gegenteil.« Tom atmete tief ein, schmeckte die metallene Luft. »Wir haben die Sache vereinfacht. Du willst weder Sara noch Julian. Du hast kein Problem damit, sie für deine Zwecke zu benutzen, aber eigentlich willst du das Geld.« Er zuckte mit den Schultern. »Also nimm uns statt sie, dann bringen wir dich zu dem Lager, wo wir das Geld deponiert haben.«
»Langsam, nur damit ich das richtig verstehe. Ich komme also mit dir mit, steige in
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