Im Bann der Drudel (Auf der Suche nach dem magischen Buch) (German Edition)
Kapitel I
Von allen guten Geistern verlassen
Timothy war an diesem Tag aus zwei Gründen besonders wütend: zum einen, weil es sein Geburtstag war, zum anderen würden in wenigen Stunden Scharen von Hexen, Geistern und Vampiren an den Türen der Bruntsfield Street klingeln und Süßes oder Saures fordern …
Wie jeden anderen Tag auch würde er hingegen nur durch die vergitterten Fenster seines Zimmers dem Treiben auf der Straße zusehen können.
Vor der alten Stadtvilla in Edinburgh hatte bis vor Kurzem noch das Schild »zu verkaufen« gestanden, Timothys Vater hatte es gleich nach ihrem Einzug durch die unmissverständliche Botschaft »Betteln und Hausieren verboten!« ersetzen lassen. Im gleichen Atemzug waren die Erkerfenster vergittert und die Mauer des kleinen Gartens auf gut drei Meter erhöht worden.
An der massiven Eingangspforte heftete seit dem Morgen ein handgeschriebener Zettel, auf dem in dicken Lettern die Worte »Keine Halloweengesuche!« zu lesen waren, was jedoch vollkommen überflüssig war. Niemand wäre auf die Idee gekommen, die abweisende Villa zwischen den mit Kürbissen, Hexen und Spinnennetzen dekorierten Häusern aufzusuchen.
Am liebsten hätte Timothy den ganzen Tag verschlafen, aber die spätherbstliche Sonne schien in sein Dachgeschosszimmer und warf den Schatten des vergitterten Fensters auf sein Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen sah er auf den Wecker.
Es war bereits Mittag. Zumindest hatte Elsa ihn ausschlafen lassen, was bedeutete, dass sein Vater immer noch nicht heimgekehrt sein konnte. Nur an wenigen Tagen des Monats war der Haushaltsvorstand länger als die paar Stunden zugegen, wobei er möglichst wenig Zeit mit Schlafen verschwendete und bereits vor dem Morgengrauen am Frühstückstisch saß. Von Timothy wurde an diesen Tagen erwartet, seinem Vater schweigend Gesellschaft zu leisten, bis dieser die Times sinken ließ, ihm einen prüfenden Blick zuwarf und fragte: »Tust du, was der Arzt dir gesagt hat, Junge?«
Timothy fixierte mit schmalen Augen die Pillenschachtel, von deren Wirkung sich sein Vater Normalität versprach, drückte eine der blass blauen Tabletten heraus, um sie, wie jeden Morgen, in der Erde einer halb vertrockneten Zimmerpflanze verschwinden zu lassen.
Dann überlegte er, eines der dreizehn sich vor ihm auftürmenden Geschenke auszupacken, verwarf den Gedanken aber wieder. Er wusste ohnehin, was sich darin verbarg: ein weiterer Fernseher, wahrscheinlich noch größer und flacher als der vom letzten Jahr, eine Spielkonsole – immerhin war seine bereits ein halbes Jahr auf dem Markt –, jede Menge DVDs und, wie immer, eine Videobotschaft, auf der sein Vater ihm seine herzlichsten Glückwünsche ausrichtete. Meist mit überaus korrekt gebundenem Krawattenknoten vor der Kulisse eines fremden Landes, das er in seiner Eigenschaft als Botschafter besuchte.
Dabei hatte Timothy bei dem letzten gemeinsamen Frühstück gewagt, seinen einzigen und gleichsam größten Wunsch auszusprechen. Die Gelegenheit schien denkbar günstig gewesen zu sein. Der alte Herr hatte die Times bereits sorgfältig zusammengefaltet beiseite gelegt gehabt, hatte sich von Elsa den zweiten Kaffee nachschenken lassen und hatte, gerade als sein Sohn die Küche betrat, auf die Uhr gesehen.
»Ich werde für einige Tage nach Berlin reisen«, hatte er ohne einen Morgengruß das Gespräch eröffnet. »Ich denke nicht, dass ich es zu deinem Geburtstag rechtzeitig zurückschaffen werde. Wenn du dir also etwas Bestimmtes wünschst –«
»Ich will in den Zoo«, hatte Timothy mit fester Stimme geantwortet. »Sie haben dort jetzt weiße Tiger und –«
»Du weißt, dass du das Haus nicht verlassen darfst!«, war die knappe Antwort seines Vaters gewesen, bevor er den letzten Schluck Kaffee hinuntergestürzt und sich von Elsa seinen Trenchcoat hatte reichen lassen.
Bei der Erinnerung trat Timothy so lange wutentbrannt auf eines der Geschenke ein, das er statt seiner Freiheit bekommen hatte, bis er das befriedigende Knacken einer DVD-Hülle vernahm. Gerade als er auch einem weiteren Karton zusetzen wollte, hörte er Elsas schwerfällige Schritte auf der Stiege, die zu seinem Zimmer führte. Schnell schob er das ramponierte Geschenk unters Bett und fuhr sich mit den Fingern durch sein zerzaustes Haar, denn auf keinen Fall durfte er einen auffälligen Eindruck erwecken, wollte er die Mauern seines Gefängnisses je hinter sich lassen.
Das Hausmädchen, eine bodenständige, rundliche Frau, die
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