Im Bann der Dunkelheit
der Löwen.
Wir standen eine Weile reglos da und lauschten auf die Geräusche im Haus.
Andere Musik und andere Stimmen waren aus den anderen Räumen zu hören.
Weder die Musik noch die Stimmen wurden von Lebenden erzeugt.
Hier wohnt der Tod.
Vom Wohnzimmer gingen wir vorsichtig durch die Eingangsdiele zum Arbeitszimmer. Sasha und Roosevelt blieben an der Tür stehen. Die Rolltür einer in die Bücherwand integrierten Multimediakommode war geöffnet, und im Fernseher lief Der König der Löwen mit heruntergeregelter Lautstärke. Timon das Erdmännchen und Co. sangen gerade .Hakuna Matata..
Im Arbeitszimmer fanden Bobby und ich zwei weitere Mitglieder des Selbstmörderklubs, ebenfalls mit schwarzen Seidentüchern über den Gesichtern. Ein Mann saß am Schreibtisch, und eine Frau lag in einem Morris-Sessel. Neben beiden lagen die geleerten Gläser.
Ich hatte nicht mehr die Nerven, die Schleier zu lüften. Die schwarze Seide mochte ein kultisches Drumherum mit einer symbolischen Bedeutung sein, die nur jenen verständlich war, die sich zu diesem Ritual der Selbstauslöschung zusammengefunden hatten. Ich hatte jedoch inzwischen das Gefühl, daß es zumindest zum Teil auch ein Ausdruck ihrer Schuld war, weil sie sich an der Arbeit beteiligt hatten, die die Menschheit in diese Notlage gebracht hatte. Wenn sie Reue empfunden hatten, dann besaß ihr Tod eine gewisse Würde, und sie zu stören, wäre mir respektlos vorgekommen. Bevor wir das Wohnzimmer verließen, hatte ich auch die Gesichter von Sparkman, Toregard und Ellway wieder zugedeckt.
Bobby schien den Grund für meine Zurückhaltung zu verstehen und hob den Schleier vom Gesicht des Mannes am Schreibtisch, während ich die Taschenlampe benutzte, um ihn möglicherweise identifizieren zu können. Es war ein gutaussehender Mann mit kleinem, gepflegtem grauen Schnurrbart.
Weder Bobby noch ich kannten den Mann. Bobby legte das Seidentuch zurück.
Die Frau, die im Morris-Sessel lag, war uns ebenfalls fremd, aber als ich das Licht auf ihr Gesicht richtete, schaltete ich es nicht sofort wieder aus.
Mit einem leisen Pfeifen sog Bobby Luft durch die Zähne ein, und ich murmelte: »Mein Gott!«
Ich mußte mir Mühe geben, damit meine Hand nicht zitterte und der Lichtstrahl nicht schwankte.
Sasha und Roosevelt schienen die schlechten Neuigkeiten gespürt zu haben und kamen von der Diele herein. Obwohl keiner von beiden ein Wort sagte, zeigten ihre Gesichter alles, was über ihre schockierten und entsetzten Empfindungen gesagt werden mußte.
Die Augen der Toten waren geöffnet. Das linke war ein normales braunes Auge. Das rechte war grün und nicht im entferntesten als normal zu bezeichnen. Es war fast kein Weiß darin. Die Iris war riesig und golden, die Linse goldgrün. Die schwarze Pupille war nicht rund, sondern elliptisch - wie die Pupille einer Schlange.
Die Augenhöhle war genauso mißgestaltet wie das, was sie enthielt. Nicht nur das, die Knochenstruktur der gesamten rechten Hälfte ihres einstmals wohl hübschen Gesichts wies leichte, aber erschreckende Deformierungen auf - an Stirn, Schläfe, Wange, Kinn.
Der Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen. Die Lippen waren von den gebleckten Zähnen zurückgezogen, die größtenteils noch normal wirkten. Ein paar auf der rechten Seite waren jedoch zugespitzt, und ein Eckzahn schien sich mitten in der Umbildung zu einem Reißzahn zu befinden.
Ich schwenkte die Taschenlampe den Körper hinunter, bis der Strahl auf die Hände fiel, die im Schoß lagen. Ich hatte halbwegs damit gerechnet, auf weitere Mutationen zu stoßen, aber beide Hände schienen normal zu sein. Sie waren fest ineinander verschränkt und hielten einen Rosenkranz: schwarze Perlen, silberne Kette, ein kunstvolles kleines Kruzifix.
In der Haltung ihrer bleichen Hände lag so viel Verzweiflung, so viel Jammer, daß ich aus Mitgefühl die Taschenlampe ausschaltete. Es erschien mir zu aufdringlich und indiskret, dieses grausige Zeichen ihrer letzten Qualen zu betrachten.
Als wir die erste Leiche im Wohnzimmer gefunden hatten, hatte ich trotz der schwarzen Schleier gewußt, daß diese Menschen nicht nur aus schlechtem Gewissen wegen ihrer Forschungsarbeit in Wyvern Selbstmord begangen hatten.
Vielleicht hatten einige von ihnen Schuldgefühle gehabt, vielleicht sogar alle, aber sie hatten sich zur Teilnahme an diesem chemischen Harakiri hauptsächlich deswegen entschlossen, weil sie sich im Werden befanden und weil sie große Angst vor dem
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