Im Bann der Engel
Dämonenlochs lag drei Schritte hinter ihr. Vor ihr, so nah, dass sie glaubte blind zu sein, ragten die Schatten auf. Elena spürte, dass sich irgendetwas in der Dunkelheit verbarg, das noch furchtbarer als die undurchdringliche Finsternis war. Es fixierte sie mit kalten Augen, wartete, bis die Beute schwach genug sein würde, um dann unerbittlich zuzuschlagen.
Etwas raste aus den Schatten auf sie zu. Elena sprang zurück. Eine Figur aus Metall, kaum so lang wie ein Finger, lag vor ihren Füßen. Elena musterte sie misstrauisch, dann hob sie sie auf und sah, dass die Figur Richards Gesichtszüge trug. Einst hatte die Skulptur wohl Flügel besessen. Sie waren abgebrochen worden. Elena lächelte grimmig. Sie besaß jetzt einen Anker. Fest schloss sie die Hand um den Engel ohne Flügel.
Ihr Atem verlangsamte sich, als sie sich die Tranceübungen ins Gedächtnis rief. Elena konzentrierte sich auf Richard, stellte sich ihre geistige Verbindung als leuchtendes Band vor, das die Dunkelheit vertrieb. Schmerz jagte durch ihren Körper, als die Schatten verbittert angriffen, dennoch beschleunigte sich ihr Atem nicht, denn schon längst hatte sie die körperliche Ebene überwunden. Vielstimmiges Kreischen erscholl in ihrem Schädel. Elena hangelte sich unbeirrt weiter. Die Mauer aus Schwärze begann sich aufzulösen. Die Hiebe der Schattenarme wurden schwächer. Elena hatte das letzte Stück des Bandes vor sich, dann erreichte sie Richard. Er lag auf dem Rücken, die Augen waren weit geöffnet, sein Gesicht zu einer Grimasse der Qual verzogen. Elena hoffte, dass er noch lebte. Sie wollte es so sehr, wie sie sich noch nie zuvor etwas im Leben gewünscht hatte. Sie schloss die Hand fest um die Figur. Das Metall schnitt in ihre Handfläche. Obwohl sie den Schmerz wahrnahm und ein warmes Rinnsal aus Blut auf den Boden tropfte, lockerte sie den Griff nicht.
Pfeifend sog Richard die Luft in die Lungen, blinzelte und hustete kurz darauf. Elena verließ den Pfad der Trance und stöhnte hohl auf. Ihr Körper fühlte sich an, als sei er unter das Räderwerk einer Lokomotive geraten.
„Gar nicht mal so übel“, ließ sich plötzlich eine Stimme vernehmen. Madame Hazard schälte sich aus den kläglichen Überresten der Schatten, die sich daraufhin gänzlich auflösten. Der Abgrund war allerdings noch da, und er lag keinen Schritt weit hinter Elena. Madame Hazard griff nach einem Stuhl, der auf rätselhafte Weise dem Verfall widerstanden hatte. Sie ging an Richard vorbei, warf ihm einen herablassenden Blick zu und kam auf Elena zu.
Sie duckte sich unter dem ersten Schlag Madame Hazards weg, dabei vermied sie, ihrer Feindin in die Augen zu sehen. Wieder holte Madame Hazard mit dem Stuhl aus, warf ihn dieses Mal jedoch und traf Elena mitten im Gesicht. Elena fiel benommen auf den Rücken. Sofort war Madame Hazard über ihr und schob sie unerbittlich der Abbruchkante entgegen. Richard, hilf mir, dachte Elena voller Inbrunst ohne sich bewegen zu können. Sie bringt mich um.
Aber dann würde auch Richard sterben! Mit der Kraft der Verzweiflung befreite sie ihren Arm und hieb ihrer überraschten Feindin die Engelsfigur an die Schläfe. Sie nutzte Madame Hazards schmerzvolles Zucken und setzte mit den Beinen nach. Sie trat ihre Feindin ein ganzes Stück von sich weg. Richard war noch wackelig auf den Beinen, begriff jedoch sofort, was sich gerade abspielte. Mit letzter Kraft katapultierte er sich auf die Beine und nach vorne, während sich Elena auf die Seite rollte, fort vom Abgrund und vor Madame Hazards Füße. Richards Sprung riss die gefährliche Mystikerin aus dem Gleichgewicht und in die Tiefe des Dämonenlochs. Ein Seufzen drang aus den bodenlosen Tiefen zu ihnen herauf. Ein kühler Windzug streifte sie, dann schloss sich das Loch und das Haus begann sich zurück zu verwandeln.
Sophia hatte sich im Schrank verborgen. Sah es erst so aus, als würde ihre Herrin den renitenten Engel besiegen, genügte ein Blick durch das Schlüsselloch, um zu erkennen, dass Madame Hazard nie wieder kämpfen würde.
Sophias Fingerknöchel bluteten, so fest hatte sie darauf gebissen, um ihr Entsetzen nicht laut herauszuschreien. Jetzt, da Winterstone und Amenatos fort waren, erlaubte sie sich ein Wimmern aus tiefster Seele. Sie stieg aus dem Schrank und ging mit abgewandtem Blick an der Wand entlang. Als sie das Foyer erreichte, wurde die Tür aufgesperrt. Es war Albert.
»Ist noch jemand im Haus?«, wollte er wissen und sah nervös an ihr vorbei.
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