Im Bann der Leidenschaften
windschiefe Stehlampe mit gelbem Schirm. Alles in allem weit unter Philippe Duvalls Niveau. Genau wie ich.
Als mein Gast seine Taschen auf dem Boden abstellt, verschwinde ich kurz in der Abstellkammer hinter der Rezeption. Dort lagern meine Eltern Papiere und allen möglichen Kleinkram, und dort steht der Kühlschrank. Zwei Minuten später kehre ich mit zwei Gläsern Weißwein zurück. Was ist schon dabei, einem vollkommen übermüdeten Gast ein Glas Wein anzubieten? Es ist eine Geste der Freundlichkeit, nicht wahr? Trotzdem senke ich den Blick wie ein englisches Fräulein aus dem sechzehnten Jahrhundert, als ich bemerke, dass Monsieur Duvall mich von oben bis unten mustert. Ich weiß nicht, ob ich wissen will, welche Gedanken ihm gerade durch den Kopf gehen, was er von mir hält. Aber er verrät sie mir ohnehin nicht.
„ Cheers“, sagt er einfach nur freundlich und hebt das Glas.
„ Tchin Tchin“, erwidere ich den Trinkgruß auf Französisch. Dann stoße ich mit diesem Gast an, der so gar nicht in unser einfaches Hotel hineinpassen will.
Zwei Stunden, zwei Flaschen Wein und zwei Lebensgeschichten später knalle ich mein leeres Glas auf den Tresen. Meine Knie fühlen sich ganz wabbelig an von dem vielen Alkohol. Mein Gesicht glüht. Aber auch Philippe, wie ich Philippe Duvall inzwischen nenne, hat ordentlich einen im Kahn. Er plaudert und plaudert und zwischendurch lacht er albern. Inzwischen kommt er mir fast vor wie einer von uns. Abgesehen von seinem knuffigen Akzent. Und seinem Engagement für den Tierschutz, während wir hier in der Gegend ein Rind nach dem anderen verspeisen. Und abgesehen davon, dass er einen ganz besonders ungewöhnlichen Job hat. Er ist Modefotograf. Und der Vorsitzende einer Initiative gegen untergewichtige Models. Ich bin baff! Vielleicht habe ich ja doch Chancen?
„Leider verschmähen die französischen Designer immer noch solch göttliche Plus-Size-Models wie Laetitia Casta. Ihr Amis seid da schon viel weiter“, verkündet Philippe mit einem unschuldigen Augenaufschlag. „Du kennst doch Laetitia Casta, oder?“
„Nicht persönlich.“ Aber n atürlich kenne ich die rothaarige Falbala aus dem Asterix-Film. Vergleicht er mich gerade mit ihr? Der Mann muss blind sein. Auf alle Fälle ist er farbenblind, denn meine Mähne ist nicht rot, sondern blond.
„Komm “, fordere ich ihn rigoros auf, bevor er noch merkt, dass ich eifersüchtig bin auf all die Frauen, die er vor die Linse seiner Kamera bekommen hat und noch bekommen wird. Außerdem will ich, dass er endlich aufhört, von seinem Job zu reden. Das macht mich ganz fertig. „Ich zeige dir dein Zimmer.“
„ Bei deiner Größe und mit deinen Kurven wärst du auch ein tolles Model“, behauptet Philippe, schnappt sich seine Taschen und folgt mir mit seinen langen Schritten.
Er hat mich wohl wirklich mit Laetitia Casta verglichen, wobei ihre Kurven doch eher kleine Kurven sind. Unwillkürlich will ich protestieren: Nein! Ich doch nicht! Ich habe keine Kurven, ich bin einfach nur fett. Doch ich beiße mir auf die Zunge. Ich beschließe, dass es mir für mindestens eine Stunde vollkommen egal sein wird, ob in den Bernsteinaugen dieses französischen Gottes ein Verkleinerungsmodus eingebaut ist, oder ob der Alkohol ihm die Sinne vernebelt. Wortlos steige ich vor ihm die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Bei jeder Stufe machen meine Flip-Flops ein schmatzendes Geräusch. Trotz oder wegen des Promillegehalts in meinem Blut, bemühe ich mich, meine nicht gerade unterentwickelten Hüften schwingen zu lassen. Wann hatte ich das zuletzt getan? Bevor Jack mich verlassen hat? Bei meinem letzten verzweifelten Versuch, diesen Idioten zu halten? Diesen absoluten Durchschnittstypen, der mich monatelang mit der Imbissverkäuferin betrog, mit der er jetzt verheiratet ist?
A ls ich Philippe den Schlüssel zur Suite reiche, lacht er. Es ist ein leises, warmes Lachen. Ich spüre, wie das hochschießende Blut meine Wangen zum Erröten bringt. Erst in dem Moment wird mir klar, wie peinlich die Situation ist, denn ich stehe bereits mindestens eine Sekunde zu lang auf der Stelle. Ich sollte längst wieder verschwunden sein. Phil weiß jetzt, wo sein Zimmer ist. Er braucht meine Hilfe nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass ich mich einem wildfremden Mann zum Fraß vorwerfe. Bitte sehr, schöner Mann, nimm mich. Mach mit mir, was du willst. Nimm mich, das Mauerblümchen, die sexuell vollkommen unterversorgte Provinzpomeranze, die sich einmal
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