Im Bann der Lilie (Complete Edition)
die Wange und verabschiedete sich rasch. Voller Begeisterung kehrte sie nach Hause zurück. Sie konnte es kaum abwarten, beim Abendessen mit ihrem Gatten und ihrem Bruder über das Angebot ihres Vaters zu sprechen.
Während Clement von der Idee begeistert war, sagte der Marquis zunächst kein Wort. Nach außen trug er eine desinteressierte Miene zur Schau, doch innerlich überschlugen sich seine Gedanken. Er konnte es kaum glauben. Marcel wollte das mühsam instandgesetzte Schloss verkaufen? Das konnte nur eines bedeuten: Er wollte das Land verlassen, und zwar für immer. Und an seiner Seite würde dieser Schiffsjunge sein! Das musste er um jeden Preis verhindern! Aber wie? Das Naheliegendste für die Flüchtlinge war, ein Schiff in die Kolonien zu nehmen. Also musste sich sein Mündel in einer der großen Hafenstädte befinden. Aber in welcher? Der größte Teil der Schiffe aus Übersee legte in Marseilles und Le Havre an.
Zum Erstaunen der Zwillinge erhob sich der Marquis mit einer gemurmelten Entschuldigung vom Tisch und verließ den Speisesaal. Er eilte die Stufen empor in sein Arbeitszimmer und griff nach der Liste, den Napoleons Kurier ihm überbracht hatte. Aus beiden Städten gab es Hinweise auf die mögliche Anwesenheit der beiden gesuchten jungen Männer. Aber nur ein einziger kam aus Le Havre. Marcel war ein schlauer Bursche. Julien beschloss, zunächst nach Le Havre zu reisen, um diese Zeugin Madame LeBlanc aufzusuchen. Heute würde die Zeit bis zum Tagesanbruch nicht mehr reichen. Aber Morgen würde er bei Einbruch der Dunkelheit als Schattenwesen aufbrechen! Er spürte, dass die Zeit ihm genauso davon lief wie Marcel. Mit diesem Gedanken blickte er hoch zu dem Portrait des hübschen Jungen, dessen Augen ihn auf grausame Weise anzulächeln und sein Begehren zu verspotten schienen.
In der nächsten Nacht erreichte Marcel Saint-Jacques den Ort Chartres, wo er sich im Längsschiff der riesigen Kathedrale auf das geheimnisvolle Ritual der Ringweihe vorbereitete. Es hatte ihn Überwindung gekostet, diese zu betreten. Insgeheim erwartete er Gottes Zorn, der ihn vielleicht zu Boden strecken würde. Aber nichts geschah. Kein Blitz und kein Donner erhoben sich gegen den Blutsauger. Die atemlose, dämmrige Stille in diesem Gotteshaus umfasste ihn wie einen dichten Mantel. Der Geruch von Weihrauch drang in seine Lungen. Ein leichter Schwindel erfasste ihn. Er fühlte sich irgendwie gelähmt, und seine sonst so geschmeidig fließenden Bewegungen nahm er wie in Zeitlupe wahr. Mit Mühe gelang es ihm, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Zur Sicherheit hatte er Townsends Notizen mitgenommen, um den Spruch pünktlich um Mitternacht, wenn die Tore zwischen den Welten weit offen standen, aufzusagen. Dann sollte das Schmuckstück mit seinem Blut zu segnen sein, damit die uralten Mächte der Vampire auf den Ring seines Geschöpfes übertragen würden.
Derweil traf Julien de Montespan im Admiral Bleu bei Madame LeBlanc ein. Diese war erstaunt und entzückt, dass ein echter Adeliger ihr Haus beglückte, nachdem sie jedoch erfuhr, dass dessen Besuch nicht ihren Damen galt, sondern der Suche nach zwei Männern, trug sie ihre Enttäuschung offen zu Tage. Ein paar Silberstücke trösteten sie darüber hinweg, und die Aussicht auf die fünfzig Goldstücke ließen ihr grell geschminktes Antlitz rasch wieder strahlen. Bereitwillig gab sie Auskunft. Sie berichtete ihm von den beiden Gästen, die ihr Haus überstürzt verlassen hatten. Auch, dass sie nach einem gewissen Engländer gesucht hatten.
Townsend, dieser Verräter!, fuhr es dem Marquis durch den Kopf, als er den Namen erfuhr.
Madame LeBlanc beschrieb ihm auch den Weg zu den Girauds, wo der Herr immer noch Gast sein sollte. Julien de Montespan brach unverzüglich auf. Zur gleichen Zeit begannen die Uhren überall im Lande die zwölfte Stunde zu schlagen.
Marcel hielt die Kopie des Ringes über die Taufschale aus Marmor. Mit einem kleinen Stilett schnitt er sich in die linke Handfläche, legte den Ring dort hinein und umschloss das Schmuckstück mit seiner Faust, bis es ganz von Blut bedeckt sein musste. Einzelne Tropfen rannen bereits hinunter. Er sprach die lateinische Formel, die Townsend ihm notiert hatte, mit möglichst fester Stimme. Danach öffnete er die Hand, reinigte den Ring im Wasser und barg ihn in einem Samtbeutel unter seinem Hemd. Dann wartete er, bis sich der Schnitt in seiner Hand geschlossen hatte und ging wieder hinaus in die kühle Nachtluft,
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