Im Bann der Lilie (Complete Edition)
der Girauds lag nicht weit entfernt vom Haus. Dort befanden sich Kisten, Pakete und Körbe in allen Größen und Formen, in denen Waren aller Art zu den Schiffen transportiert wurden. Eine längliche Kiste weckte das Interesse des Marquis. Sie war bis auf die Holzwolle leer. Dort hinein verfrachtete er den armen Jungen und verschloss den Deckel mit einigen Nägeln. Silvios Augen waren vor Schreck weit geöffnet und flehten um Gnade, doch er vermochte keinen Ton herauszubringen.
„Sei froh, hier drin bist du vor dem Tageslicht sicher. In der Zwischenzeit werde ich mir überlegen, wohin deine Reise geht, mein Lieber“, sagte er dabei ungerührt. In ihm aber reifte bereits ein teuflischer Plan.
Am Abend darauf besucht er ein weiteres Mal die Lokalität von Madame LeBlanc. Er drückte der Wirtin einen Beutel in die Hand.
„Eure Belohnung, Madame. Der Vogel wird bald wieder im Käfig sitzen. Aber sagt mir: Wo kann ich einen Kapitän finden, der für den gleichen Preis eine Fracht übernimmt, ohne zu fragen?“
Die Wirtin kicherte. „Wenn Euer Gnaden ungebetene Gäste befördern möchten, dann würde ich Euch Kapitän Mercier von der LA ROCHELLE empfehlen. Er fragt nicht viel, und seine Mannschaft besteht aus Galgenvögeln und Halsabschneidern aller Art. Ihr findet ihn drüben im Bateau Perdu.“
Der Gestank und die ungehobelten Gäste ekelten den feinfühligen Adeligen zutiefst, dennoch fragte er den Wirt nach dem gesuchten Schiffsführer. Der zeigte an einen Tisch. Der ungepflegte Kapitän mit der zerrissenen Uniform saß mit dem ersten Maat zusammen und würfelte. Als der nobel gekleidete Gast zu ihm trat, hob er nur unwillig den Kopf. „Was wollt Ihr?“, brummte er und schätzte mit den Augen den Wert der Kleidung und Schmuckstücke ab, die der Marquis trug.
„Ich komme auf Empfehlung von Madame LeBlanc. Wann läuft Euer Schiff aus?“
„Keine Ahnung. Wenn wir genug Handelsfracht bekommen.“
„Und wohin soll die Reise gehen?“
„Na ja, das interessiert uns eigentlich weniger“, brüllte der Maat lachend dazwischen und nahm einen tiefen Schluck aus seinem hölzernen Bierkrug.
„Verstehe. Wie wäre es mit der Kolonie Louisiana?“
Der Kapitän prostete ihm zu. „Ach, Baumwolle und Sklaven – ein gutes Geschäft.“
Der Marquis legte einen Geldbeutel vor dem zerlumpten Seemann auf den Tisch. Der starrte den Lederbeutel gierig an. „Zählt ruhig nach“, forderte der Adelige ihn auf, wozu sich Mercier nicht zweimal bitten ließ.
„Seid Ihr etwa einer von diesen Königstreuen? Mit Politik wollen wir nämlich nichts zu tun haben!“, maulte der Maat, der ebenfalls die Pracht der Goldstücke in dem Beutel bewundern wollte und danach griff. Doch der Kapitän schlug ihm schmerzhaft auf die Finger und steckte das Geld ein.
„Was sollen wir dafür tun?“, fragte er nun lauernd.
Der Marquis beugte sich zu ihm hinunter und gab nun leise seine Anweisung.
„Morgen früh holt Ihr eine Kiste aus dem Kontor Girauds, die ich extra für Euch mit einem roten Kreuz gekennzeichnet habe. Wohlgemerkt: nur diese eine Kiste! Ihr dürft sie auf keinen Fall öffnen! Es handelt sich um ein Ausstellungsstück für eine Sammlung. Ihr versteht schon.“
Der Kapitän schlug sich lachend auf die Schenkel. „Der Kerl ist ein Schmuggler“, grölte er. Aber niemand schenkte ihm in dieser Kneipe überhaupt Beachtung, denn überall wurde lautstark gesungen und gelacht.
Der Marquis schenkte ihm einen mahnenden Blick, woraufhin sich Mercier sofort wieder beruhigte. Versöhnlich bot er dem Adligen einen Krug Bier an.
„Kommt, Herr, trinkt mit uns auf den Handel. Ihr habt dafür bezahlt, und Eure Kiste soll dafür eine ruhige Überfahrt in die neue Welt bekommen. Versprochen!“ Wieder ein kehliges Lachen.
Der Marquis wandte sich wortlos zum Gehen. Ab morgen Abend brauchte er nur noch auf Marcels Rückkehr zu warten.
Townsend wunderte sich zwar, dass ihm tagelang niemand öffnete, wenn er abends an der Pforte des Gärtnerhauses klopfte, um nach dem jungen Vampir zu sehen. Aber er wusste ebenso, dass die Untoten Schlafphasen einlegten, also ließ er Silvio, den er dort drin vermutete, vorübergehend in Ruhe. Zwei Nächte später kehrte Marcel Saint-Jacques nach Le Havre zurück. Sein erster Weg führte natürlich zu den Girauds, wo er seinen Gefährten voller Freude in die Arme schließen und ihm über das Gelingen seiner Mission in Kenntnis setzen wollte.
Umso entsetzter war er, als er statt seines Freundes den
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