Im Bann der Lilie (Complete Edition)
den Namen Saint-Jacques zu tragen und lehrte den aufgeweckten Jungen schon frühzeitig das Reiten und Fechten. In beiden Disziplinen brachte es der Knabe schon im Alter von zwölf Jahren zu wahrer Meisterschaft. Elise dagegen wurde von Privatlehrern unterrichtet und in alle Tugenden und Pflichten einer jungen Dame aus gutem Hause eingeweiht. Das heranwachsende Mädchen zog sich immer mehr zurück, würdigte den Halbbruder keines Blickes, wenn sie sich zufällig im Garten begegneten, oder der Graf und seine Dienerschaft in getrennten Kutschen zur Kirche fuhren. Der Comte und seine Familie saßen immer auf der ersten Bank, während Marcel und seine Mutter sich unter das gemeine Volk mischten. Das war eine sonntägliche Genugtuung für Elise, wenn sie ihren Stand so deutlich hervorheben konnte. Jahr um Jahr keimte der Hass auf Vater und Bruder wie eine dunkle Saat in ihrem Herzen. Sie weigerte sich, mit Marcel ein Wort zu wechseln, galt ihm doch scheinbar der ganze Stolz des Vaters. Als dieser einmal von ihr verlangte, den verhassten Halbbruder als Tanzpartner für ihren Unterricht zu wählen, war sie empört aus dem Zimmer gelaufen. Dennoch lehrte Saint-Jacques seinem Sohn alle höfischen Umgangsformen und einige Fremdsprachen, was Marcel nach dem Tode des Vaters zugute kam.
Es war ein tragischer Jagdunfall, der das Leben des erst Fünfundvierzigjährigen beendete. Vater und Tochter waren bei einer Fuchsjagd von den übrigen Teilnehmern getrennt worden und eine Zeit lang allein unterwegs gewesen. Das Pferd des Comte, ein noch recht unerfahrener Vollbluthengst, den der Graf erst kurz zuvor aus England importiert hatte, hatte sich wohl vor einem plötzlich auffliegenden Fasan erschrocken, war durchgegangen und hatte den Comte in einem Waldstück abgeworfen. Eine tödliche Kopfverletzung war die Folge. Elise war völlig aufgelöst zum Gut zurück galoppiert, um Hilfe zu holen. Aber diese kam zu spät. Das Haus Saint-Jacques trug einige Monate Trauer, danach lud der Advokat des Grafen zur Testamentseröffnung.
Ein kleines, jährliches Einkommen hatte der Comte dem Jüngling hinterlassen, doch das restliche Vermögen, allen Grundbesitz und das weitläufige Herrenhaus erbte die Tochter, so wie es das Gesetz vorschrieb. Elise hatte nach Antritt ihres Erbes nichts Besseres zu tun, als ihren Halbbruder auf die Straße zu setzen. Die wenig aparte, eher etwas farblose Comtesse konnte ihrer in der Vergangenheit angestauten unbändigen Eifersucht auf den hübschen und exotisch anmutenden Marcel endlich Luft machen. Nun brauchte sie nicht mehr um die Gunst ihres Vaters zu buhlen, der sie am liebsten schnell losgeworden wäre und gut verheiraten wollte. Dabei gab es unter ihren bisherigen Verehrern niemanden, dem sie Hand und Herz hätte schenken wollen. Die Wahrheit war, dass ihre hochnäsige und jähzornige Natur jeden abschreckte, der nicht unbedingt auf das recht beachtliche Erbe angewiesen war. Und das waren in ihren Kreisen die wenigsten. Mit ihren gerade mal zwanzig Jahren war das Herz der jungen Comtesse bereits versteinert.
In einem Anflug von Wohlwollen übergab sie Marcel eines der Pferde ihres Vaters als Abschiedsgeschenk. Es war der kupferrote Hengst, mit dem ihr beider Vater zu Tode gekommen war. Welch ein Zynismus! Sie legte ihm mit kühler Stimme nahe, sich nie wieder hier auf dem Gut blicken zu lassen. Seine wenigen Habseligkeiten konnte er in einer Tasche aus Segeltuch verstauen und hinter dem Sattel festbinden. Bei seinem Weggang standen seiner Halbschwester Verachtung und Genugtuung ins Gesicht geschrieben. Marcel würde ihren triumphierenden, kaltherzigen Blick niemals vergessen. Wie sie da stand, in ihrem hoch geschlossenen, schwarzen Trauerkleid unter dem weißen Säulengang vor der großen Freitreppe. Hoch aufgerichtet wie eine böse Königin, die ihn ihres Reiches verwies. Aber Elise hatte noch mehr vor, um ihre Rache an dem ungeliebten Bastard ihres Vaters zu vollenden.
An einem herrlichen Sommermorgen machte sich Marcel im Alter von siebzehn Jahren auf den Weg nach Paris, um dort sein Glück zu machen. Dort hatte Ludwig XIV. vor einiger Zeit Maria Theresia von Spanien zu seiner Königin gemacht. Es hieß, der König förderte Künste und Wissenschaften. Für ein Studium an der Académie würde sein Erbe zwar nicht reichen, doch Marcel hatte sich in den Kopf gesetzt, seine Fechtkünste zu Geld zu machen und später einmal zu unterrichten. Er war kein stattlicher Mann, eher klein, aber flink, ein
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