Im Bann der Wasserfee
Wenn sie jedoch jetzt ihr Herz verschloss, würde sie nie wieder lieben können.
Sie gab Ragnar den Schlüssel.
»Du zitterst ja«, sagte er. »Bist du nervös?«
Was für eine Frage. »Natürlich bin ich nervös. Bist du dir sicher, dass die Überschwemmung nicht gefährlich sein wird?«
»Mach dir keine Sorgen. Ich kenne mich damit aus. In meiner Heimat gibt es unzählige Deiche und Staudämme.« Er küsste sie sachte auf den Mund.
»Irgendwie riechst du heute seltsam«, sagte sie.
Ragnar lachte leise. »Das liegt daran, dass ich mich mit dem Mörder auf dem Boden gewälzt habe.«
»Dem Mörder!« Sie erstarrte vor Angst. »Hat er versucht, auch dich zu töten?«
Ragnar nickte.
»Warum wollte er das tun?«
»Er ist seit Jahren in dich verliebt.«
Dahut starrte ihn an. »Ewen? Das ist unmöglich. Er empfindet rein gar nichts für mich oder hat es mir zumindest nie gezeigt. Nicht mal andeutungsweise. Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Weil Gradlon – so seine eigenen Worte – ihn sonst kastriert hätte. Er sagte, er befürchtete, du würdest ihn nie in Erwägung ziehen, da er nicht standesgemäß sei.«
»Nicht ich, Gradlon versucht mich mit jemanden zu verheiraten, der den größten Gewinn für ihn bringt, sei es finanziell oder durch Verbindungen.« Dahut spürte Tränen in ihre Augen treten, doch kämpfte dagegen an zu weinen. »Er hätte auch dich töten können. Ich mag gar nicht daran denken ...«
Er küsste sie erneut. »Es ist mir aber nichts passiert.« Er zog sie in seine Arme und hielt sie umfangen, bis sie sich beruhigt hatte. Dann wandte er sich zum Gehen.
»Ich komme mit dir«, sagte Dahut und wollte ihm die Stufen hinauf folgen.
Er wandte sich zu ihr um. »Nein, gehe du voraus zu Morvarc’hs Stall und warte dort auf mich. So sind wir schneller. Beeil dich, denn das Wasser wird zu Anfang viel Druck haben, doch das lässt bald nach.«
»Aber es sind meistens zwei, drei Wächter auf dem Deich. Ich könnte sie ablenken und …«
»Lass die mein Problem sein. Geh jetzt, Dahut, und zieh dir die Kapuze ins Gesicht, damit dich niemand erkennt.«
Dahut eilte zu Morvarc’hs Stall. Sieben Wächter standen davor. Viel zu viele, um sie zu überwältigen. Würde Gradlon sie wirklich bis auf ein oder zwei für die vermeintliche Flutkatastrophe abberufen? Während des Brandes hatte Gradlon dies getan.
Wenn sie ihn richtig einschätzte, fürchtete er die Gewalt des Meeres noch weitaus mehr als ein Feuer. Doch warum hatte er dann überhaupt ein Tor in den Deich bauen lassen? Sie hätte ihn heute danach fragen sollen, doch wäre dies zu auffällig gewesen. Gewiss hätte er ihre Absicht erraten. Früher war ihr diese Frage als zu trivial erschienen, denn sie hatte ganz andere, aus ihrer Sicht schwerwiegendere, unbeantwortete Fragen. Mit etwas Glück würde sie die über ihre Herkunft bald endgültig lösen können und vielleicht die Heimat finden, nach der sie schon lange gesucht hatte.
Keineswegs konnte sie in Ys bleiben. Gradlon wollte nur seine Haut retten und den unweigerlich bestehenden Unruhen zuvorkommen, indem er sich nach Huelgoat absetzte. In dieser Stadt hatte er zu viel Schindluder getrieben und sie sollte sein Erbe tragen. Da war es sogar noch besser, sie würde unerkannt in einem anderen Land leben.
Dahut hielt sich in einigem Abstand zum Pferdestall, damit die Wächter nicht misstrauisch werden würden. Als sie ein Tosen vernahm, wandte sie ihren Blick dem Deichtor zu. Eine gewaltige Wassermasse schoss durch die Straßen geradewegs auf sie zu. Noch war sie weit entfernt, doch sie bewegte sich schnell. Viel zu schnell.
Dahut schluckte. Was war, wenn Ragnar sich geirrt hatte und er die Stadt vernichtete? Wenn die Flut nicht nachlassen und alle Menschen und Tiere ertrinken würden?
Sie liebte Ragnar und vertraute ihm, doch beschlich sie Angst. Gewiss waren die Deiche in seiner Heimat nicht von solch einer Größe wie der in Ys. Ragnar hatte sich verschätzt. Das Meer würde die Stadt verschlingen! Sie waren alle todgeweiht!
Ihr Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass Ragnar jetzt vermutlich ertrank, es sei denn, er war auf dem Deich selbst geblieben. Doch von dort würde er kaum entkommen können. Zu weit war das Ufer entfernt. Tränen traten in Dahuts Augen und verschleierten ihre Sicht.
Die Wächter schrien durcheinander. Ihre Gesichter und Stimmen verrieten Panik. Ohne die Befehle des Kommandanten oder des Königs mussten sie an ihrem Platz bleiben, doch würden sie aufgrund
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