Im Bann des Kindes
weiter. Nicht denken, nicht umsehen, nur rennen, hämmerte es in ihr. Ihre Füße flogen über verbrannte Erde, sie hetzte durch eine Landschaft, in der das Licht zu etwas Grauem geronnen war und alles mit totenfahlem Schein überzog. Felsen ragten um sie herum auf, schwarz, glasig, bar allen Lebens.
Sie wußte nicht, wo sie war, noch, wie sie hierher gelangt war. Nur eines wußte sie: Lauf, lauf, lauf!
Die Schritte, das Klatschen in ihrem Rücken wurde lauter. Bis eben hatte sie es lediglich aus der Ferne vernommen, vielleicht nur die Echos von Geräuschen, die der sengende Wind ihr nachtrug. Doch jetzt hörte sie die Laute wirklich. Sie zwängten sich durch die vorwurfsvollen Worte in ihre Gedanken und vergifteten sie zusätzlich.
Sie kamen näher.
Wider besseren Wissens sah Lilith im Laufen über die Schulter zu-rück. Und strauchelte prompt. Verlor eine Sekunde, die ihr fehlen würde. Irgendwann. Eher früher denn später.
Denn sie waren nahe. Und holten auf ...
Eine Wolke wie aus zuckender Schwärze verfinsterte den fahlen Himmel, der weder Tag noch Nacht zu kennen schien. Etwas flutete wie eine graue Woge heran, nicht rauschend, sondern hechelnd, geifernd, heulend.
Lilith meinte, den heißen Atem der Wölfe schon im Nacken zu spüren, glaubte sich gestreift von einem Luftzug, den Hunderte von ledrigen Schwingen entfachten.
Und sie lief. Immer weiter. Immer schneller. Doch weder weit noch schnell genug. Denn ihre Verfolger kannten keine Erschöpfung mehr, seit sie dem Blut nicht mehr nachjagen mußten, seit sie sich bedienen konnten aus nie versiegenden Quellen.
Die Woge graupelziger Leiber kam über Lilith, riß sie im Lauf von den Beinen. Völlige Lichtlosigkeit senkte sich auf sie herab, als die Wolke aus flatternden Körpern sich auf sie stürzte.
Sie wartete auf den Schmerz - und wußte doch, daß er nicht kommen würde.
Denn ihr Stiefvolk wollte ihr etwas antun, das tausendmal schlimmer war als alles körperliche Leid und der Tod.
*
Die Stadt war von archaischer Architektur. Schwarze Bauten, so weit das Auge reichte, sinnverwirrend in ihrer Anordnung und schmerzhaft im Anblick. Feuer brannten allerorten, kämpften gegen die Nacht an, die mehr als nur Finsternis war, seit sie herrschten.
Ein wogendes Meer aus Leibern und Bewegung füllte die Straßen und Gassen. Grölend und schreiend teilte es sich, als die Häscher in die Stadt kamen und ihre Beute in einem Käfig hoch über ihren Köpfen zur Schau stellten.
»Hurenbalg, jetzt bist du dran!«
»Dein Blut gehört uns!«
»Dein Ende wird uns das Fest der Feste!«
Solche Rufe und schlimmere begleiteten Lilith, als sie durch die Stadt geschleppt wurde, die von Menschen nach Plänen der Alten Rasse erbaut worden war.
Sie ließ den Blick schweifen und sah ausnahmslos in verzerrte Visagen, aus denen ihr nur Haß, Abscheu und Triumph entgegenstarrten. So spürbar, daß ihr übel davon wurde. Sie hob den Kopf ein wenig, um sie nicht mehr ansehen zu müssen. Und entdeckte in einiger Entfernung etwas, das ihr Ziel sein mußte.
Ein Gebäude, das die anderen weit überragte. Auf einem allein schon turmhohen Fels errichtet, wucherte es dort oben wie ein unförmiges Geschwür, schwarz wie die Nacht selbst. Und nur deshalb erkannte Lilith nicht gleich, welcher Form die Konturen des Bauwerks nachempfunden waren.
Wie eine monströse Fledermaus mit ausgebreiteten Schwingen saß der bizarre Palast auf der Felsnadel, aller Statik trotzend.
Doch ehe sie mit ihren Jägern dort anlangte, wo sich ihr Schicksal erfüllen sollte, mußte sie noch eine weitere Grausamkeit erdulden.
Inmitten der Stadt befand sich ein freier Platz - frei zumindest von Gebäuden. Denn er war regelrecht überflutet mit Vampiren. Sie drängten sich um ein Podest, eine Bühne, das nur einigen der Häscher genug Raum bot, die sie gefangen und hergebracht hatten. Sie verfrachteten den Käfig mit ihrer Beute dort hinauf und zerrten Li-lith heraus.
Erst jetzt erkannte sie, was noch auf dem Podest Platz gefunden hatte. Ein hölzernes Gestell, aufklappbar, mit drei Öffnungen darin.
Die Vampire stellten Lilith an den Pranger. Und jeder der versammelten Menge durfte ihr antun, was immer ihm gefiel.
Endlose Stunden vergingen, in denen Lilith den Tod herbeischrie. Ewigkeiten, in denen sie lernte, was die Phantasie von Vampiren an Widerwärtigkeiten zu ersinnen imstande war.
*
Die Kammer blieb für Lilith dunkel, obwohl genug Licht hereingefallen wäre, das ihre vampirischen Sinne hätten
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