Im Bann des Kindes
das Bild?« fragte sie den jungen Mann im schwarzen Mantel.
Er nickte.
»Ich sehe den, der darauf abgebildet gewesen war«, erklärte Lilith. »Und du?«
Raphaels Blick flackerte einen Moment lang unstet, ging hin und her zwischen dem veränderten Bild, Lilith und dem - »Kind«, flüsterte er. »Ich sehe ein Kind. Nicht mehr.«
Lilith lächelte schwach. Aber es war nichts Fröhliches daran.
»Schade.«
Es war die Stimme eines Kindes, eines kleinen Jungen, die aus dem Widdermaul kam, und sie hatte nichts mehr mit dem rauhen, animalischen Organ gemein, mit dem er zuvor zu Lilith gesprochen hatte.
Und dann fuhr sie fort: »Greift sie euch, meine Freunde!«
Die Untoten setzten sich in Bewegung. Und plötzlich schienen sie sehr viel gelenker.
Weil eine abartige Vorfreude sie trieb.
*
Die Kreaturen kamen über Lilith und Raphael wie eine Horde Tiere. Geifernd und knurrend stürzten sie sich auf die beiden, wie ihr Herr es ihnen geheißen hatte.
Ein Kampf entbrannte, den Gabriel vergnügt beobachtete.
Der junge Mann stand wie ein Fels in der Brandung der heranwogenden Leiber, deren Gestank einer Welle gleich über ihm und Lilith zusammenschlug. Er rührte sich nicht; nur seine Augen bewegten sich, und das Zucken zweier Adern an seinen Schläfen verriet eine Konzentration, deren Stärke spürbar im Raum lag.
Wie von unsichtbaren Händen gepackt und geschlagen wirbelten ein paar der Untoten davon. Sie brachen in die Knie, und bevor sie sich wieder erheben konnten, war das Unsichtbare bei ihnen. Doch es attackierte sie nicht länger mit Fäusten, sondern mit Klingen, die ebensowenig zu sehen - aber tödlich waren.
Vertrocknete Köpfe wurden von Schultern getrennt. Der Gestank wurde schlimmer.
Lilith nahm sich nur eine halbe Sekunde Zeit, sich über Raphaels »Kampfstil« zu wundern. Dann ging sie auf ihre Weise gegen die untote Brut vor.
Die Bestie in ihr gehorchte der Halbvampirin wieder. Und Lilith ließ sie von der Kette.
Kräfte übernahmen ihren Leib und formten ihn zu etwas um, das den Untoten in Scheußlichkeit kaum nachstand. Mit Krallen verheerte Lilith die verwesenden Leiber, riß ihnen die Schädel ab, entseelte sie.
Die mörderische Schlacht gegen das Heer der Kreaturen währte nur ein paar Sekunden. Dann standen Lilith und Raphael inmitten von Staub und stinkenden Kadavern, die sich nie mehr erheben würde, gleich welche Macht auch in sie fuhr.
Doch Kampflust lag noch immer über allem. Denn die Halbvampirin und der Gesandte standen nun einander gegenüber, belauerten sich, mißtrauisch und aufmerksam.
»Willst du zu Ende bringen, was du vor Wochen begonnen hast?« fragte Lilith kehlig und erinnerte an den Kampf in Salem's Lot, der sie fast das Leben gekostet hatte. »Ich wünschte, du hättest meine Warnung damals gehört ...«
»Deine Warnung?« fragte Baldacci.
»Daß unsere Wege sich nie mehr kreuzen mögen.«
»Laßt voneinander ab!«
Die Stimme fuhr mit der Macht eines Peitschenhiebs zwischen sie, und etwas darin ließ Lilith und Baldacci tatsächlich je einen halben Schritt zurückweichen.
Das Kind sah zu Baldacci hin.
Lilith fühlte sich von den starren Augen aus dem Widderschädel angeglotzt.
»Wenn ihr eure Kräfte messen wollt, dann tut es mir zum Wohlgefallen. Ich werde sie schüren in einem Maße, das ihr euch nicht vorzustellen wagt.«
Lachen wurde laut. So laut, daß es die Wirklichkeit teilte.
Und den Weg hinein in andere Wirklichkeiten öffnete.
Sein Wille geschah. Und sein Reich kam ...
* »Ciao, Raphael!«
»Ciao!« rief der schwarzhaarige Junge. »Bis morgen!«
Er band die Schürze ab und warf sie über den Haken hinter der Küchentür. Dann ging er durch das Lokal, das zu dieser späten Stunde nur noch von einer Handvoll Stammgäste besetzt war, und hinaus in die Nacht.
Auf den Straßen und in den Gassen Trasteveres hatte der Touristenstrom indes noch nicht nachgelassen. Man nutzte die milde Frühlingsnacht für einen Bummel durch Rom, und auch Raphael überlegte, ob er noch zur Spanischen Treppe hinüberfahren sollte, um ein paar Freunde zu treffen. Doch er entschied sich dagegen. Mama würde sich Sorgen machen, wenn er nicht nach Hause kam, und er konnte später immer noch weggehen, wenn er sich daheim wenigs-tens einmal hatte sehen lassen.
Der Junge schwang sich auf seine Vespa und ließ sie im Schritttempo zwischen den Passanten hindurchrollen, bis er die Fahrbahn erreichte.
Jeder Fremde hätte sich schon nach ein paar Metern verirrt auf dem Weg, den
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