Im Bann des Kindes
Raphael fuhr. Die Strecke führte durch Gassen, die für Autos zu schmal waren, über Hinterhöfe, deren Zugänge kaum zu erkennen waren, und selbst durch Hausflure, von deren Wänden das Knattern des Motorrollers wie Maschinengewehrfeuer widerhallte und sich in die wütenden Rufe aus dem Schlaf geschreckter Landsleute mengte.
Schließlich hatte der Junge das schmalbrüstige Haus erreicht, in dessen zweitem Stockwerk er mit seiner Mutter lebte. Während er die Vespa abstellte, wanderte Raphaels Blick an der Fassade hoch. Vor dem Balkon flatterten Wäschestücke an der Leine und - - noch etwas?
Die Bewegung verschwand, bevor Raphael sie wirklich sehen konnte.
Er betrat das Haus und stieg die schmalen Stiegen hoch.
Die Schreie vernahm er, als er den Absatz der ersten Etage erreicht hatte. Sie wurden über ihm laut.
Nun waren Schreie in diesem Haus nichts Besonderes, auch zu so später Stunde nicht. Die Nachbarn gerieten sich oft in die Haare, und ihre Versöhnungen liefen meist ebenso lautstark ab wie ihre Streitigkeiten.
Aber diesmal waren es nicht die Leute von nebenan, deren Schreie Raphael hörte. Es waren die Schreie nur einer Frau. Seiner - »Mutter!«
Raphael glaubte zu rufen, doch es war nicht mehr als ein keuchender Laut, aus Entsetzen geboren, der ihm von den Lippen flog.
Mit langen Sätzen hetzte er nach oben. Riß die Wohnungstür auf. Stürmte hindurch.
Und erstarrte.
Eine Gestalt lag am Boden, die er nicht näher betrachten mußte, um zu wissen, daß es seine Mutter war. Er konnte sie auch nicht richtig erkennen, denn drei andere beugten sich über sie. Taten etwas mit ihr. Schlürfend, schmatzend, grunzend wie Tiere.
Jetzt ließen sie von ihr ab, wandten sich ihm zu. Ihre dunkel verschmierten Lippen verzerrten sich in die Breite.
In der Vorfreude auf sein Blut.
Und Raphael Baldacci spürte etwas in sich erwachen. Etwas, das er auf einer anderen, späteren Ebene seines Denkens erkannte, obwohl es in diesem Augenblick neu und ungewohnt war.
Später würden Macht und Haß daraus werden.
Wenn er Lilith Eden begegnete .
Raphael fühlte sich wie herausgeschält aus seinem Geist und Körper. Er stand unsichtbar neben sich, neben dem Jungen, der er einmal gewesen war und der jetzt jene Dinge erlebte, die wenig später aus seinem Gedächtnis gestrichen worden waren.
Von wem? Und warum?
Zugleich wußte er, daß sie nicht wirklich gelöscht worden waren. Nur verschüttet, tief genug, um sich nicht mehr daran erinnern zu können. Es hatte eines anderen, machtvollen Auslösers bedurft, um sie zu hervorzuholen.
Der Eindruck des Sehens aus zwei Perspektiven - aus der des Jungen und der des jungen Mannes - schwand. Raphael schlüpfte zurück in den Körper seines um wenige Jahre jüngeren Selbst.
Und sah sich den Vampiren gegenüber, die seine Mutter getötet, ausgesaugt hatten.
»Warum?«
Raphael schrie den Blutsaugern das eine Wort entgegen. Und mit einem winzigen Teil seines Denkens wunderte er sich darüber, daß er die Unmöglichkeit dessen, was er vor sich sah, hinnahm. Daß er die Existenz dieser Kreaturen akzeptierte, als wären sie schon immer Teil seiner Welt gewesen - oder als hätte etwas in ihm schon immer von ihnen gewußt .
»Warum?« äffte einer der Vampire ihn nach.
»Darum«, geiferte ein anderer.
»Was hat sie euch getan?« schrie Raphael mit einem Zorn, von dem er nicht gewußt hatte, daß er dazu fähig war.
»Sie hat dich geboren«, erwiderte einer der Blutsauger.
»Sich mit ihm eingelassen«, sagte ein anderer.
»Mit wem? Was hat das zu bedeuten?« fragte der Junge.
»Red nicht«, zischte ein Vampir. »Stirb!«
Gemeinsam stürzten die Blutsauger sich auf ihn.
Raphael wußte, daß er keine Chance gegen sie hatte. Er wußte nur eines, mit einer Gewißheit, die ihn auf seltsame Weise beruhigte: Sie waren nicht gekommen, um seine Mutter zu töten. Der wahre Grund ihrer Heimsuchung war - er selbst.
Unter ihrem Ansturm ging der Junge nieder wie unter einer Sturmwelle. Seine Gegenwehr bestand nur aus Reflexen.
Und doch - war er plötzlich frei! Die Vampire waren von ihm gewichen, zurückgeschleudert worden wie von unsichtbaren Fäusten getroffen.
Verwirrt rappelte Raphael sich auf Hände und Knie hoch. Erst dann sah er den nachtschwarzen Schatten, der über ihn fiel.
Der Schatten eines Mannes, der hinter ihm im Flur stand und dem nun alle Aufmerksamkeit der Vampire galt.
Raphael wurde zum Zuschauer eines Kampfes, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Weil er mit
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