Im Bann des Kindes
Mitteln und Kräften ausgetragen wurde, die er sich nie hatte vorstellen können.
Die Schreie der Vampirbrut waren die einzigen Geräusche, die ihn begleiteten. Ihre Körper wurden wie von gewaltigen Sturmböen herumgewirbelt, und Raphael konnte etwas wie einen Hauch dieser Kräfte spüren. Er erschauerte selbst unter diesem winzigen Bißchen der Macht, die hier am Werke war.
Darüber hinaus konnte er spüren, daß der Kampf länger tobte, als es vonnöten gewesen wäre. Der Mann, der sich ihrer bediente, schien seine Kraft zu nutzen, um die Vampire zu quälen, bevor er sie tötete.
Dreimal wurde das morsche Knirschen hörbar, mit dem unsichtbare Hände die Hälse der Blutsauger brach. Dann zerfielen sie zu Asche. Nur ihre Kleidung blieb übrig.
Raphael kauerte wie gelähmt am Boden, und er wich auch um keinen Zentimeter, als der Mann über ihn hinwegstieg und dorthin trat, wo der Leichnam seiner Mutter lag.
Seine Mutter, die in dem Moment die Augen öffnete, als der Mann sich zu ihr niederbeugte! Doch selbst über die Distanz hinweg konnte Raphael sehen, daß dies nicht mehr die Augen seiner Mutter waren. Der Ausdruck darin war ... anders, böse.
Der Mann kniete neben ihr. Seine Hände hoben ihren Kopf, er erwiderte ihren fremden Blick, dessen Veränderung auch ihn frösteln ließ. Als hätte auch er sie gekannt - zu Lebzeiten .
»Es tut mir leid«, sagte er rauh. »Ich habe immer befürchtet, daß so etwas geschehen könnte. Und ich wußte, daß es heute nacht passieren würde. Doch ich kam zu spät. Zu spät für dich, amore mio.«
Ein Ruck durchlief seine kräftige Gestalt. Ein Ruck, der in seine Hände floß und weiter.
Der Körper von Raphaels Mutter erschlaffte in seinem Griff. Doch der Mann blieb noch lange knien, bevor er sich erhob und schweren Schrittes auf den Jungen zukam. Er streckte ihm die Hand entgegen.
»Komm ...«, sagte er.
Wieder war es Raphael, als würde sich ein Teil von ihm aus seinem Leib lösen, ein Teil, der all das schon erlebt und vergessen hatte. All das - diese fürchterlichsten Minuten seines jungen Lebens, die entscheidend für sein weiteres gewesen waren, ein Wendepunkt, ein neuer Anfang .
Und dieser Teil, der sich für einen Moment abermals verselbständigte, erkannte den Mann, der vor ihm stand.
». mein Sohn«, vollendete Salvat.
Gemeinsam verließen sie das Haus. Drunten an der Straße wartete eine schwarze Limousine mit laufendem Motor. Salvat öffnete den Fondschlag und wies den Jungen stumm an, einzusteigen. Raphael setzte sich auf die lederbespannte Bank, während Salvat vorne zustieg.
Der Wagen fuhr los.
Und als er sein Ziel erreichte, hatte Raphael vergessen, was zuvor gewesen war.
*
VERSAGT!
Lilith Eden, du hast VERSAGT!
Die Worte waren nicht wirklich hörbar, und doch trafen sie Lilith wie die Fausthiebe eines vor Wut rasenden Riesen. Oder wie der Zorn einer Macht, die allgewaltiger war, als ein Mensch sich vorzustellen vermochte .
Lilith kannte die Stimme.
Sie hatte sie schon einmal gehört, wenngleich sie nicht mit bloßem Ohr wahrzunehmen war. Was sie sprach, entstand in den eigenen Gedanken.
Schon einmal hatte die Stimme zu ihr gesprochen. Am Anfang der Zeit. Als ER Lilith ihre neue Bestimmung verkündet hatte.
Und nun strafte ER sie, weil sie ihre Aufgabe nicht erfüllt hatte. Trieb sie mit der Gewalt seines Zorns über eine Welt, die nicht mehr jene war, die sie gekannt und der sie Erlösung hatte bringen sollen.
Denn sie hatte versagt! Die Alte Rasse war nicht vernichtet. Sie lebte. Sie gedieh.
Und sie herrschte.
Nicht länger im Verborgenen, sondern offen und unbarmherzig. Die Vampire hatten ihre Zurückhaltung aufgegeben und die Welt im Handstreich genommen, die Menschheit unterjocht. Sie bedienten sich nicht mehr menschlicher Machtstrukturen, um ihre Herrschaft auszuüben. Sie hatten eigene aufgebaut, ein Netz aus Grausamkeit und Schmerz gewoben und über die Menschen geworfen. Männer, Frauen und Kinder waren nun unübersehbar zu dem degradiert worden, was sie den Vampiren seit jeher in allererster Linie gewesen waren.
Nahrung.
Sie hielten sie in riesigen Lagern, in Pferchen, wie Vieh. Und wie Vieh mußten sich die Menschen vermehren, auf daß der Nachschub für die wahren Herren nie versiegte.
Und sie - Lilith Eden - trug die Schuld daran.
Warum? Was ist geschehen? Was habe ich getan?
Die Frage wehte über ein Gleis ihres Denkens, das ins Nichts führte, und die Frage verschwand im Nirgendwo, im Vergessen.
Lilith rannte
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