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Im Bann des roten Mondes

Im Bann des roten Mondes

Titel: Im Bann des roten Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hastings
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Stirn. »Entschuldige«, murmelte er. Dann zwang er sich zu einem Lächeln. »Das sind Dinge, die du nicht mehr wissen musst, weil du sie nicht brauchst. Damit wirst du vielleicht in den Pariser Salons deine Zuhörer finden.«
    »Ich werde keine Pariser Salons besuchen«, gab sie erstaunlich gefasst zurück.
    »Das musst du auch nicht. Du kannst tun, was dir Spaß macht. An der Seine spazieren gehen, ins Theater gehen, dich auf Bällen und Soireen vergnügen. Warte nur, dir wird das Leben in Paris so kurzweilig werden, dass du gar nicht merkst, wie die Zeit vergeht.«
    »Willst du das? Dass die Zeit vergeht?«
    »Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Und sie wird auch deine Wunden heilen, Désirée.«
    Sie schwieg. Vielleicht hatte er sogar Recht. Aber die Narben würden bleiben. Sie sollte Philippe nicht dafür strafen, dass sie unglücklich war.
    »Bist du so weit?«, wollte er wissen. Er nahm die Reisetasche aus Gobelinstoff, in der er die wenigen Habseligkeiten verstaut hatte, die sie noch besaßen: Désirées zweites Kleid, etwas Wäsche, ein Hemd für ihn. Er hatte seinen Anzug ausbürsten und sein Hemd waschen lassen. Für mehr war kein Geld da. Dafür besaß er zwei Eisenbahntickets über Constantine nach Algier.
    Vor dem Hotel wartete eine Droschke, die sie zum Bahnhof brachte. Désirée hielt während der ganzen Fahrt den Kopf gesenkt, als befürchtete sie, dass die Passanten sie anstarren würden. Als sie noch in Paris lebte, hatte sie eines Abends das Theater besucht und ein Stück angeschaut, in dem Marie-Antoinette mit der Guillotine hingerichtet wurde. »Der Tod einer Königin« oder so ähnlich hatte es geheißen, sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Erinnern aber konnte sie sich an die Szene, als die zum Tode verurteilte Königin in einem offenen Wagen durch die Stadt gefahren wurde und dem Spott des Pöbels preisgegeben war. Und dann wurde sie an die entsetzliche Tötungsmaschine herangeführt. Sie musste sich hinknien und den Kopf in die halbkreisförmige Aussparung legen. Danach hielten zwei Männer eine breite Plane hoch, sodass die Zuschauer nur noch Schatten sahen. Und dann sauste das rasiermesserscharfe Fallbeil herab. Im ersten Moment bangte Désirée, dass es die Schauspielerin noch rechtzeitig geschafft hatte, bevor das Beil fiel. Dann zogen sie den abgeschlagenen Kopf aus einem Korb heraus und zeigten ihn der grölenden Menge, während der leblose Körper noch in dem Gestell der Guillotine hing.
    Auch wenn es ein Wachskopf war und der Körper eine ausgestopfte Puppe, so blieb ihr diese Szene ein Leben lang im Gedächtnis, und sie weigerte sich standhaft, jemals wieder eine Theateraufführung zu besuchen.
    Marie-Antoinette war herrschsüchtig und intrigant gewesen, aber so ein Ende durfte keinen Menschen ereilen. Auf diesen blutigen Mord und tausende andere hatte man den Traum von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufgebaut. Wo waren diese Ideale geblieben? Warum wurde immer noch im Namen dieser Ideale gemordet?
    Jetzt fühlte sich Désirée so, als würde sie den Weg zur Hinrichtung gehen. Wahrscheinlich waren Marie-Antoinette ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. Erinnerungen kamen auf, die sie längst vergessen glaubte. Die Expeditionen, auf denen sie ihren Vater begleiten durfte, ihr Leben in Paris, sogar das Bild ihrer Mutter sah sie vor sich und ihr verhärmtes Gesicht, wenn Etienne Montespan wieder einmal über seinen Relikten brütete und den Rest der Familie und der Welt vergaß. Bruchstücke aus ihrer Kindheit wurden lebendig, die sie irgendwie in einem verklärten Licht sah. Und dann wieder die Wüste, unendlich, leer und doch voller Emotionen. Es waren weniger die Bilder der Wüste selbst als die Gefühle, die diese Bilder in ihr hervorriefen. Je näher sie dem Bahnhof kamen, umso enger schloss sich ein drückender Reif um ihren Brustkorb. Es konnte nicht nur an dem ungewohnten Korsett liegen. Es war drückend heiß, und auch der Fahrtwind konnte die Hitze nicht lindern, zumal die Droschke nur langsam vorwärts kam. Menschen, Esel, Schafe und Karren verstopften die engen Straßen. Schmale Balkons aus Holz klebten an den Fassaden wie Schwalbennester.
    Am Bahnhof hielten sie. Philippe entlohnte den Kutscher, half Désirée aus dem Gefährt und nahm die Tasche in die andere Hand.
    Auf dem Bahnsteig drängten sich schon die Passagiere, die auf den Zug warteten, der noch nicht eingetroffen war. Mittlerweile war dieser Wüstenbahnhof zu klein geworden für die

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