Im Blut vereint
die Armbanduhr und ging ein wenig schneller. Der Trauergottesdienst für Lisa MacAdam würde in zwölf Minuten beginnen. Sie war froh, dass sie zu Fuß gekommen war. Hier parken zu müssen, wäre der Horror gewesen. Und nach der Veranstaltung hätte sie zwischen den Autos der anderen Trauergäste festgesteckt. Sie wollte aber schnell von hier wegkommen können.
Ihr Herz hämmerte im Takt ihrer Schritte. Die Vorstellung, Lisas Beerdigung durchstehen zu müssen, machte sie nervös. Nein, halb krank vor Angst.
Aber es war ihre Art, Buße zu tun.
Fast alle Juristen von Halifax waren gekommen und anscheinend alle Schülerinnen von Lisas Highschool. Auf dem Parkplatz marschierten Anwälte in dunklen Anzügen majestätisch an Grüppchen von jungen Mädchen vorbei. Die Mädchen hielten sich an den Händen oder umarmten sich. Kate war etwas überrascht, dass so viele von Lisas Schulkameradinnen gekommen waren. War Lisa nicht eher eine Einzelgängerin gewesen? Was hatte die Mädchen wohl mehr erschüttert: Lisas Tod oder der Einbruch von Gewalt in ihren unschuldigen Alltag?
Sie dachte an Gennies Beerdigung zurück. Daran, wie die anderen Mädchen sie damals beobachtet hatten. Ihre Lebenserfahrung hatte nicht ausgereicht, um das Geschehene zu begreifen. Während Kate an ihnen vorbeieilte, hatte sie insgeheim gehofft, jemand würde ihr eine Hand auf den Arm legen, aber keines der Mädchen hatte sich gerührt. Sie hatten sie nur angestarrt. Manche voller Mitleid, andere vorwurfsvoll. Diese Mädchen hier, Lisas Freundinnen, wussten nichts über Kate. Und doch merkte Kate, wie sie schnell an ihnen vorbeiging und ihre Blicke mied. Genau wie vor fünfzehn Jahren.
Eine Fernsehkamera schwenkte über die Trauergäste. Mehrere Reporter standen am Rand der Menge, die Mikrofone diskret unter der Jacke versteckt. Sie hielten sich demonstrativ zurück, als respektierten sie die Gefühle der Trauernden, blickten aber gleichzeitig prüfend in alle Gesichter, in der Hoffnung, dass jemand seine Trauer in Worte fassen wollte.
Kate wollte es nicht. Würde es nie wollen.
Marian MacAdam setzte sich neben ihrem Sohn auf die Kirchenbank. Sie spürte, wie er ein wenig von ihr abrückte. Dass er ihr gegenüber so verschlossen war, hatte sie schon immer geschmerzt. Je mehr sie ihn mit ihrer Liebe überschüttet hatte, desto weniger hatte er diese Liebe erwidert.
Trotz ihrer Abneigung gegen ihre Schwiegertochter hatte Marian zunächst geglaubt, Hope würde zu Robert passen. Aber seltsamerweise hatte Hope ihm nicht geben können, was er wollte. Vor zwei Jahren hatte er überraschend seine Koffer gepackt und sie verlassen.
Und Robert hatte Lisa nicht geben können, was sie brauchte. Marian wollte ja glauben, dass er seine Tochter liebte, aber seine Karriere, seine alles verzehrende, von Machtgier und dem Leben im Jet-Set geprägte Karriere, hatte ihn stets daran gehindert, diese Liebe zu zeigen. Hätte ihn das Schicksal seiner eigenen Tochter sonst so kaltgelassen?
Und damit meinte sie nicht nur Lisas Tod. Sie meinte all das, was diesem Unglück vorangegangen war. All die Male, die Lisa ihren Vater gebeten hatte, nach Halifax zu kommen und zuzuschauen, wie sie bei einer Theateraufführung ihrer Schule auftrat. All die Male, die sie gefragt hatte, ob sie ihn besuchen dürfe. All die Male, die sie dann nicht mehr gefragt hatte, weil sie wusste, dass die Antwort immer gleich ausfallen würde.
Bei seinem Auszug vor zwei Jahren hatte Robert sich für immer verabschiedet. Auch wenn er es nie zugegeben hätte, sondern ständig die Sorgerechtsvereinbarung für Lisa im Mund führte: Faktisch war er nie zu Hause. Und Marian vermutete, dass er es gar nicht anders wollte.
Wie hatte sie einen Sohn großziehen können, der sein eigenes Kind einfach im Stich ließ?
Aber nun saß er neben ihr. Und betrachtete den Sarg seiner Tochter mit dem gleichen unbeteiligten Gesichtsausdruck, mit dem er gestern ihre sterblichen Überreste angeschaut hatte.
Hope saß auf der anderen Seite des Mittelgangs. Sie hatte Robert und Marian nicht gegrüßt und vermutlich gar nicht bemerkt. Tatsächlich grüßte sie kaum jemanden. Sie saß allein da und blickte geradeaus.
Auf den Sarg.
In dem die sterblichen Überreste eines Mädchens lagen, das niemand genug geliebt hatte, um es vor seinem Schicksal zu bewahren.
Marian schloss die Augen.
Kate öffnete die schwere Eichentür der Kirche. Nach der Helligkeit draußen mussten sich ihre Augen erst an das Dämmerlicht
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