Im Blut vereint
gewöhnen.
Im Vorraum standen schon mehrere Personen, die sich ebenfalls zunächst orientieren mussten: ein Paar – der Mann mit beginnender Glatze, die Frau geschmackvoll gekleidet – und etwas am Rand ein einzelner blonder Mann. Sie alle trugen formelle Kleidung, was darauf schließen ließ, dass es sich um Freunde von Richterin Carson handelte. Kate kannte sie nicht. Das Paar sah so aus, als hätten beide ihr Studium mindestens fünfzehn Jahre vor ihr abgeschlossen. Der blonde Mann wirkte jünger. Fast als gehörten sie zusammen, schritten sie alle vier auf das junge, rothaarige Mädchen zu, das Programmhefte für den Gottesdienst verteilte. Das Mädchen hatte blassblaue, stark geschminkte Augen, die vom Weinen gerötet waren. Es war eigenartig, wie ein solches Ereignis Menschen zusammenführte, die noch vor einer Woche nichts voneinander geahnt hatten. Nun waren sie alle hier: das ältere Paar, das voranging, und der junge Mann, der Kate höflich den Vortritt ließ.
Als sie den blutroten Teppich im Mittelgang der Kirche betraten, trennten sich ihre Wege. Das Geräusch ihrer Schritte verklang in der eigentümlichen Stille. Es war die Stille der Lebenden, die so lautlos sein wollten wie das tote Mädchen vor dem Altar und die doch durch nervöses Blättern im Programmheft, unruhiges Herumrutschen auf den Kirchenbänken oder einen geflüsterten Gruß an Bekannte verrieten, dass ihre Herzen noch schlugen.
Kate sah sich nicht nach Bekannten um. Sie wollte nicht bemerkt werden. Sie wollte für sich sein.
Sie setzte sich auf eine Bank weit hinten. Es gab nur noch wenige freie Plätze. Die jungen Mädchen auf dem Parkplatz würden sich beeilen müssen, wenn sie nicht stehen wollten.
Kate schaute auf das Programmheft.
Vom Titelblatt blickte ihr Lisa entgegen. Kate stockte der Atem. Lisa sah aus wie ein typischer Teenager. Und doch wieder nicht. Da war etwas in ihren Augen, ein Schmerz, der tiefer ging als die normalen Ängste eines Teenagers. Eine Einsamkeit, die Kate nur zu gut nachempfinden konnte.
Sie wünschte, sie hätte Lisa kennengelernt.
Sie wünschte, sie hätte ihr geholfen.
Sie wünschte, sie könnte mit ihr tauschen. Diesem jungen Mädchen ihr Leben zurückgeben.
Aber sie hatte sich das schon einmal gewünscht.
Und es hatte nichts geholfen.
Ethan stand im hinteren Teil der Kirche. Der Gottesdienst sollte in etwa einer Minute beginnen. Die Trauergäste waren vom Parkplatz hereingebeten worden und saßen nun in den Bänken.
Einen Moment lang ruhte sein Blick auf Kates seidig schimmerndem Haar. Sie hatte Ethan nicht bemerkt, aber er hatte sie gleich gesehen, als sie die Kirche betreten hatte. Es hatte ihn wie ein Blitz durchzuckt, wie sie da zögernd am Eingang stand. Sie trug ein kleines Schwarzes mit einem kurzen Jäckchen, das ihn an Audrey Hepburn erinnerte. Das Kleid saß um ihre Hüften herum locker – sie hatte abgenommen, seit sie sich getrennt hatten; am Freitag hatte er es nicht bemerkt, weil sie eine Regenjacke getragen hatte. Die strenge Kleidung unterstrich ihre Blässe. Wie üblich trug sie sehr wenig Make-up, aber ihre Lippen schimmerten blassrosa wie das Innere einer Muschel.
Sie blickte nicht nach links und rechts, sondern ging einfach zur nächsten Bank und glitt hinein. Minuten später setzte sich eine Gruppe schweigender junger Mädchen dazu, die enttäuschte Blicke wechselten, weil sie so weit hinten sitzen mussten.
Es waren mindestens fünfhundert Menschen in der Kirche.
Vierhundertneunundneunzig Trauernde.
Und – so hoffte das Ermittlerteam – ein Mörder.
Behagen erfüllte ihn. Und Befriedigung. Bis jetzt war die Woche sehr gut verlaufen.
Er hatte einen neuen Fall hereinbekommen. Schon wieder.
Das waren die Früchte sorgfältiger Planung. Die Wettervorhersage hatte gestimmt – die Genauigkeit, mit der sie Regen voraussagten, lag seiner Erfahrung nach bei neunzig Prozent –, und er hatte das Mädchen zur rechten Zeit entdeckt.
Fortuna hatte ihm ein wenig Glück beschert. Das Mädchen war die Tochter einer Richterin! Es war ein klarer Wink des Schicksals, dass ihm nach all dem erlittenen Unrecht endlich Gerechtigkeit widerfahren sollte. Dr. K war fast in Ohnmacht gefallen, als er davon erfahren hatte.
Das Glück war eben mit den Tüchtigen.
Um die Woche gebührend abzuschließen, war er zur Beerdigung des Mädchens gekommen. Endlich einmal konnte er diesen Moment auskosten. Normalerweise war es ihm nicht vergönnt. Die meisten seiner Patienten waren ihren
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