Im Blut vereint
eben passiert?
Kate kehrte völlig verwirrt zu ihrem Büro zurück. Vor Randall Barretts Schreibtisch hatte sie sich gefühlt, als wäre sie wieder in der Grundschule und würde auf der Vorderkante eines harten Holzstuhls im Büro des Direktors hocken, während Mr Ginley ihr tadelnd vorhielt, eine junge Dame stecke Jungs keine Schneebälle in die Hosen.
Nur dass man Randall Barrett unmöglich mit Mr Ginley vergleichen konnte. Ihr Schuldirektor war um die fünfzig gewesen, dick, mit schütterem Haar, und hatte förmlich nach Aftershave gestunken.
Randall Barrett war völlig anders. Wie jedes weibliche Wesen in Halifax wusste. Ihn als Partner zu gewinnen, war für LMB ein echter Coup gewesen. Er hatte in Harvard ein brillantes Jurastudium hingelegt und als Bester seines Jahrgangs abgeschlossen. Der Vorsitzende des Supreme Court von Kanada hatte ihn unter vielen Bewerbern als seinen Referendar ausgewählt. Nach seiner Zulassung als Anwalt hatte er die großen Bankhäuser in Torontos Finanzdistrikt vor Gericht vertreten. Bis seine Karriere durch seine Scheidung plötzlich an Glanz verloren hatte. Danach war er nach Halifax zurückgekehrt.
Wahrscheinlich hatte er geglaubt, mit dem Umzug könne er die alten Geschichten hinter sich lassen, aber die Sensationsblätter in Halifax ließen sich einen solchen Leckerbissen nicht entgehen. Genüsslich berichteten sie über sein großes Vermögen und seine untreue Ehefrau. Ihre Affäre mit einem Anwaltskollegen aus ihrer Kanzlei in Toronto hatte sie damit gerechtfertigt, dass ihrem Mann die Arbeit über alles gehe. Nach Kates Ansicht musste diese Klage einfach begründet sein, denn sonst wäre es unbegreiflich, dass eine Frau, die mit Randall Barrett verheiratet war, bei anderen Männern sexuelle Befriedigung suchte. Randalls männliche Ausstrahlung war überwältigend.
Als man sie in Randalls Büro bestellte hatte, war sie überzeugt gewesen, dass er sie feuern wollte. Keine Kanzlei, und erst recht keine mit einem so guten Ruf wie LMB , wünschte sich eine Anwältin als Angestellte, die sich in polizeiliche Ermittlungen und Nachforschungen durch das Jugendamt verstricken ließ. Als sie Randalls Büro betrat, befand sie sich schon in Abwehrhaltung; auf keinen Fall wollte sie sich anmerken lassen, wie sehr sie sich danach sehnte, dass er – ihr Chef, der Managing Partner der Kanzlei, einer der besten Juristen in Halifax – sie von ihren Schuldgefühlen freisprach.
Der Funke Sympathie, der zum Ende ihres Gesprächs in seinem Blick lag, hätte sie fast um ihre Selbstbeherrschung gebracht. Es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Ein kurzer Blick, aber der hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Noch jetzt war sie wie vor den Kopf geschlagen. Und sie schämte sich für das, was sie in dem Moment empfunden hatte.
Sie hatte ihr Gesicht in seinem Hemd vergraben wollen, den Duft des glatten Baumwollstoffs einatmen, fühlen, wie ihre Tränen die Spannung im Raum lösten. Er hätte sie getröstet, das wusste sie.
Und dabei wäre es nicht geblieben.
Sie hatte es ihm angesehen. Der Blick seiner leuchtend blauen Augen war intensiver geworden, wärmer, feuriger.
Was zum Teufel ist los mit dir?
Sie ging den Korridor zu ihrem Büro entlang; ihre Gedanken überschlugen sich.
Er ist der Managing Partner, Herrgott noch mal. Man schläft nicht mit seinem Chef. Das wäre beruflicher Selbstmord – vom emotionalen Harakiri ganz zu schweigen.
Wie benommen betrat sie ihr Büro und schloss die Tür hinter sich.
Er mag dich nicht einmal.
Das versetzte ihr einen Stich.
Und was ist mit Ethan?
Kate schaute aus dem Fenster. Darauf hatte sie keine Antwort.
Sie ärgerte sich über sich selbst. Letztlich wollte sie doch nur, dass Randall Barrett sie von ihren Fehlern freisprach. Hätte sie anders gehandelt, wäre Lisa vielleicht nicht gestorben.
Auf so schreckliche, groteske Weise.
Wie sollte sie damit weiterleben? Sie ließ sich auf ihren Bürostuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.
Tief im Innern, dort, wo sich harte Wahrheiten nicht durch einen mitfühlenden Blick aus der Welt schaffen ließen, wusste sie genau, dass sie einen schrecklichen Fehler gemacht hatte.
Und das ließ sich nicht wiedergutmachen.
16
Samstag, 5. Mai, kurz vor 13:00 Uhr
In der Straße vor der St. Mary’s Cathedral hatte sich eine lange Autoschlange gebildet. Auf den besten Parkplätzen standen Ü-Wagen, deren Satellitenschüsseln in der schwachen Frühlingssonne glänzten.
Kate blickte auf
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