Im Blutkreis - Roman
Klänge, die Düfte, die Schatten fort …
Rhoda und Nathan hatten Paris mittags verlassen und waren spätabends in Kairo gelandet. Sie hatten am Flughafen einen Wagen gemietet und dann die Straße nach Süden Richtung Bibah genommen. Sie waren die ganze Nacht am Nil entlanggefahren. Nach und nach näherten sie sich dieser Welt außerhalb von Raum und Zeit, fern der Geschichte der Menschen.
Im Morgengrauen tauchte die Wüste wie im Traum vor ihnen auf. Eine endlose Weite, ockerfarben, gelb, grau, scharfkantige Felsen, eine weiße Sonne am Rand des leeren Himmels. Langsam fuhren sie die unsichtbare Piste entlang, die ins Tal hineinführte. Der Sand floh vor den Reifen des Jeeps, leicht, lichtdurchflutet, zwischen den zerzausten Disteln. Ihre Blicke verloren sich in der Ferne.
Sie schwiegen.
In den Tagen nach dem Brand des Klosters vom Dschebel Barkal hatte Khartum im Blickpunkt der Medien gestanden. Mehrere westliche Regierungen, der Vatikan und das Patriarchat der koptischen Kirche in Alexandria hatten die islamistische Regierung von Omar Al-Baschir angegriffen und anhand dieses
Verbrechens neuerlicher Christenverfolgungen beschuldigt. Der Präsident hatte sämtliche Vorwürfe zurückgewiesen und das Attentat scharf verurteilt. Die Situation hatte sich zugespitzt, als die Generaldirektion von One Earth enthüllt hatte, dass sich der Gründungspräsident ihrer Organisation, Abbas Morquos, zum Zeitpunkt der dramatischen Ereignisse in dem Kloster aufgehalten hatte, dessen Wohltäter er gewesen war. Kurz darauf hatte der Sprecher des sudanesischen Innenministeriums verlautbart, dass eine obskure fundamentalistische Splittergruppe verdächtigt werde und die Polizei aktiv nach den Schuldigen suche. Am Sitz der humanitären Organisation in Liechtenstein war eine Gedenkfeier für Morquos organisiert worden. Eine erneute Flut von Artikeln und Reportagen war weltweit veröffentlicht worden, um das Werk des Wohltäters der Menschheit zu ehren.
Nathan war unbehelligt nach Frankreich zurückgekehrt. Als er Kontakt zu Jack Staël in London aufnahm, erfuhr er, dass die französische Polizei, die im »Fall Casarès« ermittelte, einen internationalen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt hatte. Da Staël sich des Risikos bewusst war, das er einginge, falls Nathan verhaftet werden würde, hatte er sofort Kontakt zu seinen Kollegen der DST aufgenommen und Nathan gedeckt. Die Ermittler gingen daraufhin der Hypothese nach, dass es sich um ein »sadistisches Verbrechen« handeln könnte, und hatten im Umkreis der ehemaligen Patienten des Psychiaters ermittelt, aber ihre Ermittlungen waren ergebnislos verlaufen. Die Sache entwickelte sich allmählich immer mehr in Richtung »unaufgeklärter Fall«. Das Attentat von Fiumicino hatte siebenundzwanzig Todesopfer unter den hundert Passagieren gefordert, die sich an Bord der Maschine aus München befunden hatten. Es war kein weiterer Fall von Infizierung gemeldet worden. Das Virus war verschwunden.
Nathan hatte Staël das Ergebnis seiner Nachforschungen mitgeteilt, einen Punkt dabei allerdings ausgespart: seine eigene
Rolle. Im Licht dieser Enthüllungen hatte der Offizier des britischen Geheimdienstes beschlossen, die Akte zu schließen.
Ashley Woods sterbliche Überreste ruhen für immer im roten Sand, irgendwo zwischen Karima und Khartum.
In der Erde der Pharaonen.
Eines Morgens im Juni war Rhoda bei Nathan in Paris aufgetaucht, wo er eine Wohnung in unmittelbarer Nähe der Place des Vosges gemietet hatte. Die Aussicht auf ein neues Leben hatte sich ihm geboten: golden wie Honig, voller Lachen und Annehmlichkeiten, fern von all dem, was er sein Leben lang gekannt hatte. Die Wochen waren vergangen, und er hatte sich ihr mit Leib und Seele hingegeben, ohne sich dagegen zu wehren. Er hatte sich von diesem Gefühl tragen lassen, das er stets zurückgewiesen hatte. Die schmerzlichen Bilder seiner fernen Vergangenheit hatten sich eins ums andere wieder in sein Gedächtnis eingefügt und waren dann nach und nach verblasst.
Er liebte sie zutiefst, diese Frau, die sich in sein Herz geschmiegt hatte, aber immer wenn die Nacht hereinbrach und seinen Augen das Licht der Milchstraße schenkte, spürte er, wie eine gewaltige kalte Leere sich in ihm ausbreitete, ähnlich der, die er empfunden hatte, als er in Hammerfest aufgewacht war. Ein Gefühl der Einsamkeit, eine Traurigkeit aus Asche und Glut, die schon ein Seufzer wieder anfachte. Er schloss dann die Augen, und wenn er nichts mehr
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