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Im Blutkreis - Roman

Im Blutkreis - Roman

Titel: Im Blutkreis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limes
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mehr aus der Zeit davor… Aber das Stadtarchiv kann Ihnen hier sicher weiterhelfen …«
    »Das Problem«, sagte Nathan, »ist, dass wir nicht viel Zeit haben.« Er schwieg kurz, dann fragte er: »Wäre es möglich, mit jemandem zu sprechen, der 1978 hier gearbeitet hat?«
    Die Direktorin überlegte ein paar Augenblicke, um im Geist die kurze Liste ihrer Angestellten durchzugehen.
    »Da wäre Monsieur Moussy … In welcher Klasse war dieser Junge?«
    »Das weiß ich nicht, ich weiß nur, dass er neun war.«
    Die Direktorin legte einen Finger auf ihre Lippen. »Neun … dann war er in der… CM1… Nein, das passt nicht, Moussy ist erst 1983 zu uns gekommen, kurz nach dem Umzug … Damals war der Schüler, den Sie suchen, bereits im Gymnasium… Aber es muss doch jemanden geben… Ja, wer Ihnen bestimmt weiterhelfen könnte, aber sie arbeitet schon lange nicht mehr hier…«
    »An wen denken Sie?«, fragte Nathan.
    »An Mademoiselle Murneau, die Krankenschwester… sie müsste damals hier gewesen sein. Sie ist in dem Jahr in den Ruhestand gegangen, in dem ich hier angefangen habe. Sie muss jetzt fast achtzig sein.«
    »Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«
    »Ich muss irgendwo ihre Adresse haben… Wenn Sie einen Augenblick warten wollen … Ich werde in meinem Büro nachschauen.«
     
    Nathan sah sich rasch in dem Klassenzimmer um. Pappmasken und bunte Kinderzeichnungen bedeckten den größten Teil der Wände und der Möbel. Er musste lächeln beim Anblick der kleinen Tische und Stühle, zwischen denen er sich wie ein Riese im Reich der Liliputaner vorkam. Ein paar Augenblicke später kam die Direktorin zurück, einen Zettel in der Hand.

    »Hier, ich habe Ihnen die Adresse aufgeschrieben«, sagte sie und reichte Nathan das Stück Papier. »Sie haben Glück, es ist gleich nebenan …«
    Résidence des Ormes
Geb. C
21, avenue de la Libération
    Nathan verließ die Schule und ging zu Fuß die hundert Meter, die ihn von der angegebenen Adresse trennten. Er blieb vor einem riesigen Komplex heruntergekommener Wohnungen stehen. Er vergewisserte sich, dass er richtig war, denn was der Bauherr »Residenz« genannt hatte, war eine ausgedehnte Wohnsiedlung der fünfziger Jahre. Der ganze Komplex wirkte so schäbig, dass das berühmte Programm zur Aufwertung der Region irgendwie daran vorbeigegangen sein musste. Die ehemalige Krankenschwester wohnte jedoch noch hier: Murneau, Jeanne, zwölfter Stock links.
    Ein Pappschild am Lift wies darauf hin, dass er kaputt war. Nathan lief die Treppen hinauf und blieb außer Atem vor einer Tür stehen, von der die blaue Farbe abblätterte. Er drückte auf den Klingelknopf und spitzte die Ohren.
    Zuerst hörte er das Schlurfen von Hausschuhen über den Boden, dann drang eine leicht schrille Stimme ins Treppenhaus.
    »Wer ist da?«
    »Die Direktorin …«
    »Sprechen Sie lauter, ich verstehe nicht …«
    Nathan räusperte sich und schrie fast: »Die Direktorin der École des Ollières hat mir Ihre Adresse gegeben. Ich suche Informationen über einen Schüler, der dort eingeschult war. Sie sagte mir, dass Sie mir vielleicht helfen könnten.«
    Nachdem mehrere Schlösser geöffnet worden waren, ging die Tür einen Spalt weit auf, und eine kleine, dürre Frau in einer Bluse mit blauen Blumen wurde sichtbar. Sie hatte schütteres
weißes Haar, und ihr Gesicht war von tiefen Runzeln durchzogen; die robuste Metallbrille, die sie auf der Nase trug, verlieh ihr ein strenges Aussehen.
    »Welches Kind, sagen Sie?«, fragte die alte Frau und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
    »Martel, Julien Martel …«
    Mit ihrer bis auf die Knochen abgemagerten Hand rückte sie ihre Brille zurecht und murmelte: »Ich erinnere mich sehr gut an dich, mein kleiner Julien. Gott sei Dank, du lebst noch…«
    39
    »Steh nicht so da … Komm rein, mein Junge …«
    Verblüfft blieb Nathan auf der Türschwelle stehen und zögerte, ob er diese Grenze zu seiner Vergangenheit überschreiten sollte. Aber dann trat er doch magisch angezogen in die Wohnung.
    Der Boden war mit Linoleum bedeckt, und die Wände waren mit dünnem cremefarbenem Wollstoff tapeziert. Ein muffiger Geruch von abgestandener Luft schwebte durch den Raum. Nathan folgte der alten Frau in den Flur. Der Geruch wurde stärker. Sie führte ihn ins Wohnzimmer. Ein Raum in braunen Tönen, voll gestopft mit billigen Möbeln und Nippes. Ein schmiedeeiserner Lüster hing über einem Tisch aus Holzimitat, auf dem ein gelbliches Spitzendeckchen lag.
    »Wie

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