Im Blutkreis - Roman
Telefongesprächen hatte er sich mit dem Direktor der Klinik – Professor Pierre Casarès – für achtzehn Uhr verabredet, wobei er die gleichen Gründe wie in der École des Ollières vorschob. Danach war er mit durchgedrücktem Gaspedal nach Süden gefahren, hatte sich jedes Wort, das Jeanne Murneau gesagt hatte, noch einmal vergegenwärtigt und sich mit dem abgefunden, was offensichtlich war: Sie war vermutlich einer der wenigen Menschen, die ihn jemals geliebt hatten.
Aber warum hatte man ihr dann verweigert, ihn zu besuchen? Welche Geheimnisse barg diese Klinik?
Er würde es bald herausfinden.
Das Eingangstor war mit einem Zahlencode gesichert, und was er für das Gebäude gehalten hatte, war in Wirklichkeit die Umfriedungsmauer. Diese Details zeugten von verstärkten Sicherheitsmaßnahmen. Nathan stellte sich an der Sprechanlage vor und wartete, bis die Schiebetüren sich öffneten. Ein junger Mann wartete auf der anderen Seite der Schleuse, in einer leeren, makellos weißen Halle.
Nathan ließ ihn zu sich kommen, um ihn besser mustern zu können. Er war um die vierzig, hatte ein pausbäckiges Gesicht und kurz geschnittenes braunes Haar, das wie eine Krone um seinen kahlen Schädel gelegt war. Sein blasses und bartloses Gesicht verlieh ihm das Aussehen einer Wachsfigur.
»Professor Casarès?«
»Nein, ich bin Doktor Clavel, der Professor musste fort, ich werde Sie an seiner Stelle empfangen. Wenn Sie mir folgen wollen.«
Nathan ging schweigend hinter ihm her. Sie durchquerten einen menschenleeren Gang, der sie einmal durch die ganze Klinik zu führen schien, bevor sie über eine Treppe nach oben gingen. Am Ende eines zweiten Korridors öffnete der Mann die Tür zu seinem Büro.
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern.«
»Setzen Sie sich, ich bin gleich wieder da.«
Nathan schaute sich in dem großen Zimmer um. Im Gegensatz zu dem übrigen Gebäude war der Raum voll gestopft mit Akten und Bücherregalen, in denen eng an eng Bücher auf Französisch und Englisch über Kinderpsychologie, Autismus, Gewalt in der Familie standen. Ein paar unbedeutende Bilder schmückten die freien Wände. Nathan machte einen Schritt auf ein großes Fenster zu, das hinter einem undurchsichtigen
Vorhang verborgen war, durch den schwaches Licht drang. Er streckte sein Hand nach einer Schnur aus und zog leicht daran. Der Vorhang öffnete sich in der Mitte und ließ einen quadratischen, betonierten Hof erkennen, der von merkwürdigen kleinen Wesen bevölkert war. Diese unwirkliche Szene war in goldenen Sonnenschein getaucht. Kinder gingen dort einsam, fast reglos umher. Ihre langen Schatten führten schräg von ihren kleinen mageren Körpern weg. Manche trugen Schutzhelme, andere lagen auf dem Boden, wieder andere traten von einem Fuß auf den andern oder kratzen sich wie besessen, mit weit geöffnetem Mund … Was Nathan jedoch am meisten verblüffte, war die Stille, die tiefe, manchmal von einem Schrei zerrissene Stille, die in dieser geschlosssenen, fast gefängnisartigen Welt herrschte. Diese Kinder wirkten verloren, ihre seltenen Klagen so weit weg von dem Lachen ihrer Altersgenossen. Schauer der Hilflosigkeit gingen durch seinen Körper. Er war einer von ihnen gewesen … Er hatte in diesem Raum gelebt, den man nur verlässt, um in die noch härtere, noch gewalttätigere psychiatrische Welt der Erwachsenen zu wechseln …
»Zucker?«
Nathan zuckte kaum merklich zusammen. Clavel stand hinter ihm, einen dampfenden Becher in jeder Hand.
»Nein, danke … Woran leiden sie?«
»Die meisten leiden unter Schizophrenie, unter verschiedenen Psychosen … Wir haben auch Autisten bei uns.«
»Haben sie eine Aussicht, geheilt zu werden?«
»Was die Autisten betrifft, würde ich antworten, nein, ihr Zustand kann sich bessern, aber die meisten werden bis ans Ende ihrer Tage so bleiben. Für die anderen gibt es in der Tat Heilungschancen, aber sie sind gering, manche sind so krank oder gewalttätig, dass sie nicht einmal ihr Zimmer verlassen können. Setzen Sie sich, bitte.«
Nathan setzte sich dem Psychiater gegenüber. Der Mann
überflog ein paar Notizen, die auf seinem Schreibtisch lagen, und fragte: »Also, aus welchem Grund wollten Sie Dr. Casarès sprechen?«
»Ich arbeite im Auftrag einer Kanzlei für Ahnenforschung, eine Erbschaftsangelegenheit … Ich bin auf der Suche nach einem Jungen, der 1979 in Ihre Klinik aufgenommen wurde. Er heißt Julien Martel.«
»Da müsste man in unserem Archiv nachsehen, aber
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