Im Blutkreis - Roman
du ein Cuttermesser hochgehalten und gedroht, es zu benutzen. Andere Erwachsene haben versucht, dich zu überwältigen, und da hast du das Messer in deinen Mund geschoben und dir die halbe Wange aufgeschlitzt … Oh, du warst ein kleines wildes Tier, du hast gekratzt, geschrien … Man hat dir ein Beruhigungsmittel gegeben und dich ins Krankenhaus gebracht. Danach hat man dich nicht mehr in der Schule gesehen und im Viertel auch nicht. Ihr habt die Stadt verlassen…«
Nathan fuhr sich mit dem Finger über seinen Schmiss. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass die Geschichte, die er da hörte, seine war. Die alte Frau trank den Muskateller in kleinen Schlucken. Er schob sich ganz nach hinten auf seinen Stuhl und fragte: »Wissen Sie, wohin wir danach gezogen sind?«
»Also, ein Jahr hab ich nichts von dir gehört, bis zu dem Tag … Mein Gott, warum erlegst du mir diese neue Prüfung auf?«
Angst stieg in Nathan hoch. Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust.
»Was ist passiert, Jeanne? Bitte sagen Sie es mir.«
Mit seltsam sanfter Stimme fuhr sie fort: »Diese Geschichte, eure Geschichte hat damals Schlagzeilen gemacht. Ihr seid nach Perpignan gezogen, in eine größere Stadt, wahrscheinlich weil ihr gehofft habt, dass ihr dort nicht auffallt, aber es ist noch schlimmer geworden. Deine Mutter hat sich ganz offensichtlich sehr gehen lassen. Den Zeugen zufolge hatte sie furchtbare Anfälle von Delirium tremens, sie schrie mitten in der Nacht,
ganz fürchterliche Schreie. Die Leute des Viertels riefen regelmäßig die Polizei, und dann hat sich das Jugendamt eingeschaltet, sie wollten deinen Eltern das Sorgerecht entziehen, was deinem armen Vater den Rest gegeben hat. Eines Abends, es war der Abend vor Weihnachten, klingelte ein Nachbar, der sich Sorgen machte, weil er euch seit Tagen nicht mehr gesehen hatte, an eurer Tür … und da niemand aufmachte, ist er in das Haus eingedrungen. Alle Lampen waren eingeschaltet, mitten am Tag … Und da fand er deine Mutter am Fuß der Treppe im Wohnzimmer, das Gesicht von einem Schuss aus einem Jagdgewehr halb weggerissen …«
»Mein Gott …«
»Dein Vater lag ein paar Meter von ihr entfernt, steif wie eine Kerze, den Lauf der Waffe noch unter das Kinn geklemmt. Die Wände waren… waren rot vom Blut. Du warst verschwunden. Die Polizeihunde haben dich gefunden, versteckt in der Hecke einer Villa des Viertels, zusammengekauert, verstört, mit leerem Blick … Sie haben versucht, dir Fragen zu stellen, aber du warst stumm, du hattest dich in eine Welt zurückgezogen, wo dich nichts mehr erreichen konnte. Sie haben trotzdem keine Mühe gehabt zu rekonstruieren, was passiert war. Die Autopsie hat ergeben, dass deine Mutter betrunken war. Mit den Nerven völlig am Ende hat dein Vater sie erschossen, bevor er das Gewehr gegen sich richtete. Dich hat er verschont. Er hat dir in gewisser Weise die Freiheit gelassen, dein Leben fortzusetzen …«
Nathan wischte sich mit seinem Ärmel die stummen Tränen vom Gesicht.
»Und was hat man mit mir gemacht, wo bin ich anschließend hingegangen?«
»Du hattest niemanden, also hat ein Familienrichter dich in eine psychiatrische Kinderklinik eingewiesen, in einer kleinen Stadt namens Cerbère, in den Pyrenäen, nahe der spanischen Grenze. Als ich erfuhr, dass du dort behandelt wurdest, wollte
ich dich besuchen, aber die Besuche sind mir verweigert worden, unter dem Vorwand, dein psychischer Zustand sei zu labil und ich sei nicht blutsverwandt mit dir … Ich habe nicht darauf bestanden. Ich hätte es vielleicht tun sollen, aber ich hatte nicht den Mut …«
In eine Welt der Erinnerungen versunken, den Blick starr auf ihre faltigen, von geschwollenen blauen Adern durchzogenen Arme gerichtet, hatte die alte Dame aufgehört zu sprechen. Als sie endlich aufblickte, sah sie nur noch einen leeren Stuhl vor sich.
Am Steuer seines Wagens warf Nathan einen letzten Blick auf den Turm und murmelte: »Danke, Jeanne … Danke.«
Dann fuhr er den Nebeln seiner Kindheit entgegen.
40
Die psychiatrische Klinik Lucien-Weinberg tauchte nach einer Kurve vor ihm auf. In der goldenen Sonne des Spätnachmittags wirkte der Betonwürfel, der über dem Meer lag, so kalt wie ein in der Grenzenlosigkeit des blauen, glatten Himmels verlorener Eisberg.
Er hatte bei der ersten Telefonzelle angehalten, um die Adresse der Einrichung ausfindig zu machen, die ihn beherbergt hatte, und er hatte gebetet, dass sie noch existierte. Nach ein paar
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