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Im Blutkreis - Roman

Im Blutkreis - Roman

Titel: Im Blutkreis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limes
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haben Sie mich erkannt?«, fragte er.
    Ein zärtliches Lächeln erhellte Jeanne Murneaus Gesicht. Sie streichelte mit ihrem knotigen Finger Nathans Wange.
    »Diese dünne weiße Narbe… da, auf deiner Wange, mein Großer… ich habe dich ins Krankenhaus gebracht. Es gibt Dinge, die vergisst man nicht… Erinnerungen, die im Gedächtnis eingegraben bleiben und einen bis ins Grab begleiten …«

    »Wie ist das passiert?«
    »Bei einem deiner Anfälle. Erinnerst du dich nicht?«
    Seine Anfälle … vermutlich wie der, der ihn auf die Gendarmerie gebracht hatte.
    »Nein …«
    Nathan sah zu, wie Jeanne Murneau einen Eichenschrank öffnete, der viel zu groß für das Zimmer war. Sie holte eine verstaubte Likörflasche und zwei kleine Kristallgläser heraus. Einen Augenblick erwog er, die Einladung abzulehnen. Aber er traute sich nicht.
    »Erinnerst du dich an mich auch nicht mehr?«
    »Ich erinnere mich an nichts, was meine Kindheit betrifft, und an alles andere übrigens auch nicht. Ich hatte einen Unfall, ich habe das Gedächtnis verloren …«
    Als könnte nichts mehr sie erschüttern, reagierte Jeanne nicht auf Nathans vertrauliche Mitteilung. Sie forderte ihn auf, sich an den Resopaltisch zu setzen, und füllte die Gläser.
    »Deswegen bist du also zurückgekommen, nicht wahr, um es wiederzufinden?«
    »Ja.«
    Die alte Frau setzte sich und seufzte.
    »Bist du sicher, dass du die alten Wunden wieder aufreißen willst?«
    »Ja, Sie müssen mir alles erzählen, was Sie über mich wissen.«
    »Wie du willst …«
    Nathan betrachtete die ehemalige Krankenschwester, die ihm gegenübersaß. Die Augen geschlossen und die Hände in einer Geste des Betens gefaltet, schien sie eine schmerzliche Reise zu machen, um nach und nach ferne und unglückselige Erinnerungen auszugraben.
    »Du warst kein gewöhnliches Kind. Es war nicht deine Schuld. Vielleicht war es die deiner Eltern, deiner Mutter vor allem, die dich nicht zu beschützen vermochte, aber ich habe
nicht über sie zu richten, die Bedauernswerte, Gott allein weiß, was sie durchmachen musste … Nun ja … das ist eine traurige und ganz normale Geschichte … Es begann, kurz nachdem das neue Schuljahr angefangen hatte… 1978, das Jahr, in dem du mit deinen Eltern in die Gegend gekommen warst. Dein Vater war Ingenieur, ich glaube, er arbeitete für ein Stahlwerk, so genau weiß ich das nicht mehr. Er war ein großer, freundlicher, aber zurückhaltender Mann. Deine Mutter arbeitete nicht. Am Anfang ging alles gut, deine Klasse hatte dich akzeptiert, und du hattest Freunde. Und dann ist es passiert … deine Mama, eigentlich eine anständige Dame, fing an… Sie war krank, Julien … schwer krank. Wegen deiner Schwester …«
    »Ich hatte… eine Schwester?«
    »Eine Halbschwester. Sie stammte aus einer ersten Ehe. Clémence, ein bisschen älter als du. Ihr war es ebenfalls nicht gut gegangen. Sie hatte ein Jahr zuvor Selbstmord verübt, ich weiß nicht, was sie zu diesem Schritt veranlasst hat, aber deine Mutter hat ihren Tod niemals verwunden.«
    »Worunter litt sie?«
    »Sie trank … sie trank, bis sie darüber den Verstand verlor. Wenn sie betrunken war, ging sie auf die Straße hinaus … sie suchte ihre Tochter. Sie bekam deswegen häufig Ärger mit den Leuten, mit den Ladenbesitzern. Sie beschimpfte sie, spuckte sie an, das ging sogar so weit, dass sie sich in den Geschäften erbrach. Es war schrecklich. Heute hat der Ort sich verändert … alles ist anonymer geworden, aber damals war es ein offenes Viertel… ein kleines Viertel, wo alle sich kannten und nichts verborgen blieb. Abends unterhielten sich die Eltern bei Tisch… die Kinder hörten zu… Diese Geschichten wurden natürlich in die Schule getragen. Innerhalb weniger Wochen bist du zum Gespött deiner Klasse geworden. Deine Freunde sind deine Feinde geworden, sie verfolgten dich, machten sich über dich lustig, demütigten dich. Aber du hattest das bereits erlebt, Julien, und am Anfang hast du nichts gesagt … doch
dann hast du dich verändert, du hast abgenommen, dein Blick wurde hasserfüllt … Du hast dich jeden Tag im Pausenhof geschlagen oder auf dem Nachhauseweg … Aber das waren keine Raufereien, wie sie in der Schule vorkommen. Du hast jedes Mal die Kontrolle verloren. Du warst sehr gewalttätig … auch dir selbst gegenüber. Eines Tages hast du dich mit einem anderen Jungen geschlagen, ich weiß nicht mehr, wer es war. Als der damalige Direktor dazwischengegangen ist, hast

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