Im Bus ganz hinten
sofort unbeliebt: Wenn ein Mädchen
zu dick war oder hässliche Klamotten trug, machte ich meine Scherze oder verarschte sie einfach. Die Gemeinheiten sprudelten aus mir
heraus, ohne dass ich großen Einfluss darauf hatte. Es war, als würde ein kleiner Teufel in mir drin hocken, dem ich nun beim Fluchen
zuhören konnte. Die Mädels taten mir zwar irgendwie leid, wenn sie dann flennten, aber gegen meinen Teufel konnte ich nichts ausrichten.
Und im Unterricht war ich ständig unkonzentriert. Ich war der Junge mit der großen Klappe, der niemals zuhörte. Es dauerte also nicht lange,
bis meine Mutter den ersten Beschwerdeanruf von meiner Klassenlehrerin bekam. Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten. Meine
Mutter hatte wie immer sofort die perfekte Lösung für ihr Problem parat: »Du bist gestört, du brauchst Hilfe«, stellte sie mit gerümpfter Nase
fest. A uch sie war mit der ganzen Situation allmählich überfordert und hatte nicht die Kraft, sich noch weiter mit ihrem missratenen Sohn
auseinanderzusetzen. Und deshalb schickte sie mich, als ich sieben Jahre alt war, erstmals zum Seelendoktor.
Die Kinderpsychologin hieß Dr. Barbara Uhlmann-Lubich. Und meine Mutter hatte natürlich nicht einmal Zeit, um mich zu meiner ersten
Sitzung zu begleiten. Sie musste in die Schneiderei und erklärte mir nur kurz den Weg. »Pass auf dich auf, und stell nichts an«, gab sie mir
noch mit. »Was soll ich denn da?«, fragte ich verzweifelt. Ich verstand die Welt nicht mehr. »Du bist krank«, sagte sie und klang dabei selbst
ein bisschen unsicher. »Du wirst sehen, das ist gut für dich. Bald bist du wieder ein ganz lieber Junge.« Ob das so stimmte? Ich fühlte mich
nicht krank, ich war bloß wütend, weil ich meinen Vater vermisste und nicht wusste, wie ich mit dem netten Erich umgehen sollte. A ufgeregt
zog ich meine Jacke an und ging auf die Straße. Ich hatte keine A hnung, was mich erwarten würde, aber ich hatte zumindest keine A ngst vor
der U-Bahn. Ich freute mich sogar auf die Fahrt von Lichterfelde nach Wedding, ich war gern allein unterwegs. In der U-Bahn zu fahren war
wie ein A btauchen in eine andere Welt. Ich wusste genau, was zu tun war – ich kaufte mir am A utomaten eine Fahrkarte, fuhr mit dem 186er-
Bus zum Rathaus Steglitz und dort dann mit der Rolltreppe runter in den Tunnel. A m Bahnsteig spürte ich den Wind der vorbeizischenden
Bahnen und freute mich schon, gleich durch die dunkle Unterwelt zu düsen. A ls die U9 in die Station einfuhr, stieg ich in den letzten Waggon.
Ich setzte mich auf einen freien Platz, und dann ging es los. Während der Fahrt blickte ich in die Gesichter der Leute oder aus dem Fenster –
auch wenn es da im dunklen Tunnel nicht viel zu sehen gab. Keiner beachtete mich. Ich fühlte mich irgendwie frei. Nur dass ich langsam
immer nervöser wurde. Was sollte das eigentlich alles? Was genau würde diese Therapeutin mit mir anstellen? A ls ich nach insgesamt 45
Minuten Fahrt schließlich ankam und wieder an der frischen Luft war, lief ich zur Praxis. Die Häuser waren hoch, es waren wahnsinnig viele
Leute unterwegs. Meine Mutter hatte mir die Straße und die Hausnummer auf einen kleinen Zettel geschrieben, ich klingelte, und mit einem
lauten Summen öffnete sich die Tür. Schon am Empfang begrüßte mich die Psychologin persönlich und mit einem netten Lächeln. Ich fand sie
auf A nhieb cool. Sie war noch nicht alt und sah aus wie eine sympathisch-verrückte Märchentante. A ber bald musste ich feststellen: Nicht SIE
erzählte hier die Geschichten. ICH sollte reden. Dr. Barbara Uhlmann-Lubich wollte alles von mir wissen. Sie quetschte mich aus und hörte
gespannt zu. »Wie fühlst du dich?«, »Was macht dich traurig?«, »Hast du A ngst?«, »Was macht dir Spaß?« Ich war irritiert. Noch nie hatte
sich jemand so für mein Innenleben interessiert, noch nicht einmal Erich, bevor ich das Mountainbike kaputt gemacht hatte. Neben dem
ganzen Gelaber malte sie Bilder mit mir – anschließend spielten wir irgendetwas zusammen. Es war eigentlich alles okay. Trotzdem fragte ich
mich, warum ich das jetzt mit dieser fremden Frau machen musste. Warum konnte das meine Mutter nicht einfach selbst übernehmen? Ich
hätte doch auch mit ihr reden und spielen können. A ndere Kinder mussten ja schließlich auch nicht zu so einer Therapie. Ich wollte deshalb
schnellstmöglich wieder nach Hause. Nach einer Stunde entließ mich die Uhlmann-Lubich, und ich fuhr
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