Im Dienste der Comtesse
Mietvertrag dann ausgelaufen war und die Champiers das Haus verließen, war das die Gelegenheit für Mélusine. Ausnahmsweise war ihr Vater zu beschäftigt gewesen, um sich in ihre Angelegenheiten einmischen zu können, und so hatte sie in aller Stille die nötigen Vorkehrungen getroffen, aus seinem Haus in Bordeaux auszuziehen und nach Paris zurückzukehren. Das mittlerweile leere Haus war ihr wie ein sicherer Hafen vorgekommen. Das Einzige, was sie hatte tun müssen, war, Monsieur Barrière zu schreiben und ihn zu bitten, verlässliches Personal einzustellen und für die ihrer Meinung nach nötigsten Einrichtungsgegenstände zu sorgen. Sie wollte ein ganz neues Leben anfangen.
Langsam stieg sie die Stufen hinauf. Eine ihrer ersten Entscheidungen, die sie treffen musste, bestand darin, ob sie die erste Etage nun vermieten sollte oder nicht. Allerdings war sie auf die Miete nicht angewiesen, also war es vorerst vielleicht besser, die Zahl der Fremden in ihrem Haus möglichst gering zu halten.
Jemand klopfte an die Eingangstür. Zuerst schenkte sie dem keine Beachtung, doch als das Klopfen drängender wurde, kam sie zu dem Schluss, dass Paul wohl gerade außer Hörweite war, und ging selbst die Treppe hinunter.
Mélusine öffnete die Tür und sah sich Daniel Blanc gegenüber. Ganz spontan freute sie sich, sein vertrautes Gesicht wiederzusehen, doch dann krampfte sich ahnungsvoll ihr Magen zusammen und sie spähte an ihm vorbei, ob ihr Vater wohl draußen in seiner Kutsche wartete. Sie kannte Daniel seit ihrer Kinderzeit, er war einer der vertrauenswürdigsten Angestellten ihres Vaters. Sie hatte ihn nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie nach Paris ziehen wollte, und auch die Bediensteten gebeten, ihn nicht zu informieren. Aber einer von ihnen musste das doch getan haben, sobald sie Bordeaux verlassen hatte.
Daniel riss die Augen auf, als sie ihm persönlich die Tür öffnete, aber er fand rasch seine Haltung wieder. „Eine Nachricht von Ihrem Vater, Madame.“
„Wo ist er?“
„In Versailles, Madame.“
Ihre Anspannung löste sich ein wenig bei dem Gedanken, dass Raoul Fournier wenigstens noch zwölf Meilen von ihr entfernt war, trotzdem verursachte ihr die Handschrift auf dem Umschlag leichte Übelkeit. Sie hatte gehofft, seine Verpflichtungen als einer der Abgeordneten in der Nationalversammlung würden all seine Gedanken und seine gesamte Zeit beanspruchen. Doch er war nicht einer der reichsten Männer von Bordeaux geworden, weil er immer nur eine Sache nach der anderen in Angriff nahm.
Mélusine trat zurück und zog die Tür weiter auf. „Danke“, sagte sie. „Gehen Sie in die Küche. Ich weiß zwar nicht genau, was an Essen da ist, aber es wird bestimmt etwas geben.“
„Ich soll auf die Antwort warten“, wandte Daniel fast entschuldigend ein.
Sie umfasste den Brief fester und hätte ihn am liebsten ungeöffnet zerrissen. „Gehen Sie und essen Sie etwas“, wiederholte sie so ruhig wie möglich.
Erst als sie allein war, brach sie das Siegel auf. Wie erwartet war der Tonfall zornig und ungeduldig. Sie überflog die in eckiger Schrift abgefassten Zeilen, bis sie zum Kern der Sache kam. Ihr Vater befahl ihr, ihn sofort in Versailles aufzusuchen, sobald sie in Paris eingetroffen sei.
Vor Zorn und Verzweiflung drehte sich ihr fast der Magen um, und sie zerknüllte den Brief. Sie war erst einen Tag in Paris, und schon versuchte ihr Vater wieder, über sie zu bestimmen. Sie war es so leid, von Männern beherrscht und benutzt zu werden, nur damit diese ihre eigenen Ziele erreichen konnten. In einem plötzlichen Wutanfall warf sie den zusammengeknautschten Brief an die Wand. Sie würde sich nie wieder Vorschriften machen lassen. Von niemandem.
2. KAPITEL
Mittwochnachmittag, 8. Juli 1789
Pierce stand teilnahmslos da, während der Anwalt den Brief von Mélusine und die Zeugnisse durchlas.
„Ihre Papiere scheinen in Ordnung zu sein“, sagte Barrière endlich. Er lehnte sich zurück und sah Pierce an. „Der verstorbene Gatte der Comtesse hat mich damit beauftragt, ihre Interessen wahrzunehmen. Seien Sie versichert, Sie wären schlecht beraten, Ihre Situation in irgendeiner Weise auszunutzen.“
Pierce betrachtete den Anwalt gleichermaßen interessiert, aber weniger auffällig. Er gewann den Eindruck, dass Barrière ein scharfsinniger, intelligenter Mann war. Etwas anderes hätte er aber auch nicht erwartet von einem Mann, den Bertier mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hatte.
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