Im Dreieck des Drachen
blondes Haar, während sie rasch dahinschritt. Mit den Fingern kämmte sie sich verirrte Strähnen aus dem Gesicht. Wenn die beiden Frauen erwischt würden, mussten sie damit rechnen, dass die Universität sie hinauswarf. Na ja, Miyuki vielleicht nicht, überlegte Karen. Ihre Freundin war eine der Professorinnen mit den meisten Veröffentlichungen und Preisen auf dem Campus. Sie genoss auf der ganzen Welt allerhöchste Anerkennung und war als erste Frau in den Computerwissenschaften für den Nobelpreis nominiert worden. Also hatte Karen nicht lange mit Miyuki debattiert, als diese hatte mitkommen wollen. Wenn die beiden erwischt würden, könnte Miyukis Ansehen auf der Insel dazu beitragen, dass sie nicht die volle Härte des Gesetzes träfe.
Zumindest hoffte sie das.
Karen schaute auf ihre Uhr. Es würde knapp werden. Wenigstens waren die Straßen hier ziemlich verlassen. Dieser Teil der Stadt hatte die Beben größtenteils unversehrt überstanden: zerbrochene Fensterscheiben, Risse in Fundamenten und ein paar Gebäude mit Brandspuren. Geringer Schaden im Vergleich zu anderen Vierteln, die bis auf die Grundmauern eingeebnet worden waren.
»Wir werden’s nie rechtzeitig schaffen«, meinte Miyuki und schob ihre Fototasche höher die Schulter hinauf. Obgleich sich Karen eine Einwegkamera von Kodak in die Jacke gesteckt hatte, hatte Miyuki darauf bestanden, ihre volle Ausrüstung mitzunehmen: Digital- und Polaroidkameras, Videokamera und sogar ein Palmpad. Sie hatte alles in eine Werbetasche mit dem Aufdruck des Time Magazine gestopft.
Karen nahm ihrer Freundin die Tasche ab und hängte sie sich selbst über die Schulter. »Doch, werden wir.« Sie beschleunigte ihren Schritt.
Miyuki, die einen Kopf kleiner war, musste traben, um nicht zurückzubleiben.
Sie eilten zum Ende der Straße. Bis zur Bucht von Naha war es lediglich hundert Meter die nächste Gasse hinunter. Karen spähte um die Ecke. Die Straße lag verlassen da. Sie ging weiter, Miyuki im Schlepptau. Der Geruch des Meeres wurde stärker: Salz und Algen. Bald sah sie die Lichter, die sich in der Bucht spiegelten. Das ermutigte sie, in vorsichtigem Laufschritt den Weg fortzusetzen.
Als sie sich dem Ende der Straße näherte, schreckte sie ein harter Kommandoruf auf: » Yobitomeru! Stehen bleiben!« Sie erstarrte, als sie der helle Strahl einer Taschenlampe blendete.
Eine dunkle Gestalt trat aus den Schatten zwischen zwei Gebäuden heraus. Die Lampe senkte sich weit genug, dass Karen die Uniform eines amerikanischen Marinesoldaten erkennen konnte. Rasch richtete er den Strahl auf Miyuki, dann schwenkte er die Lampe suchend die Straße hinauf und hinab. Ein zweiter und dritter Marinesoldat verließen ihr Versteck im Eingang eines Gebäudes. Es handelte sich offenbar um eine der amerikanischen Streifen.
Der erste Soldat kam zu ihnen. »Sprechen Sie Englisch?«
»Ja«, gab Karen zur Antwort.
Er entspannte sich leicht und richtete jetzt die Taschenlampe auf die Straße. »Amerikanerin?«
Karen runzelte die Stirn. Immer die gleiche Reaktion. »Kanadierin«, verbesserte sie.
Der Soldat nickte. »Ist dasselbe«, brummte er und winkte seinen Begleitern, sie sollten weitergehen. »Ich kehre zur Basis zurück«, sagte er zu ihnen. »Mit dem hier komme ich allein zurecht.«
Die anderen beiden hängten sich die Gewehre wieder über die Schulter und gingen an ihnen vorbei, nicht ohne die zwei Frauen von oben bis unten zu mustern. Einer der Männer murmelte etwas, das ein Gelächter sowie einen letzten geilen Blick auf Miyuki zur Folge hatte.
Karen biss die Zähne zusammen. Obgleich sie nicht von hier stammte, kränkte sie das lässige Gehabe der Navy-Soldaten, mit dem sie demonstrierten, dass sie hier das Sagen hatten.
»Meine Damen, haben Sie nichts von der Ausgangssperre gehört?«, fragte sie der Marinesoldat.
Karen täuschte Verwirrung vor. »Was für eine Ausgangssperre?«
Der Soldat seufzte. »Zwei Frauen sollten nicht allein hier herumlaufen. Das ist gefährlich. Ich begleite Sie zurück. Wo wohnen Sie?«
Karen zog die Brauen zusammen und suchte nach einer passenden Antwort. Improvisation ist angesagt. Sie nahm Miyukis Kameratasche herunter und zeigte auf das große Logo des Time Magazine auf der Seite. »Wir sind freiberufliche Mitarbeiter dieser Zeitschrift«, sagte sie. Sie zog ihre ID-Karte der Universität Ryukyu hervor und ließ sie kurz aufblitzen. Sie wirkte offiziell, und die japanischen Schriftzeichen konnte der junge Mann bestimmt nicht
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