Im Dreieck des Drachen
alles anders.
Miyuki trug eine dunkelrote Bluse und schwarze Jeans, und beides zeigte jetzt ziemlich deutliche Schmutzspuren. Ihr ebenholzschwarzes Haar hatte sie zu einem einfachen Pferdeschwanz zurückgekämmt. Sie pflückte ein Spinatblatt aus ihrer Bluse und schnippte es angeekelt davon. »Wenn du nicht meine beste Freundin wärst …«
»Ich weiß … und ich entschuldige mich zum hundertsten Mal.« Karen wandte sich ab. »Aber Miyuki, du hättest nicht mitkommen müssen.«
»Und du hättest dich allein durch Naha schlagen sollen und wärst dabei auf Männer mit wer weiß was für finsteren Absichten gestoßen? Das ist doch viel zu unsicher!«
Karen nickte. Wenigstens an Letzterem war etwas dran. Sirenengeheul schallte durch die zerstörte Stadt. Die Suchscheinwerfer der Behelfscamps durchstachen den nächtlichen Himmel wie Leuchtfeuer. Trotz der Ausgangssperre ertönten von allen Seiten Rufe und Schüsse. Ein solches Chaos hatte Karen in der Stadt nicht erwartet.
Miyuki beklagte sich weiterhin über ihr bevorstehendes Schicksal. »Wer weiß, welche Männer auf uns warten? Weiße Sklavenhändler? Drogenschmuggler?«
»Es sind bloß die ortsansässigen Fischer. Samo hat für den Mann gebürgt.«
»Und du vertraust einem senilen Hausmeister?«
Karen verdrehte die Augen. Miyuki konnte mit ihrer ständigen Nörgelei ein Loch in gehärteten Stahl treiben. »Samo ist alles andere als senil. Wenn er sagt, dieser Fischer kann uns zu den Drachen bringen, dann glaube ich ihm das.« Sie öffnete leicht ihre Jacke und zeigte ein schwarzes Schulterholster aus Leder. »Und abgesehen davon habe ich das hier.« Die Zehn-Millimeter-Automatik schmiegte sich exakt in ihre Achselhöhle.
Miyuki bekam große Augen, und ihre Haut verlor einen Hauch ihrer reichen Färbung. »Das Tragen einer Waffe verstößt gegen japanische Gesetze. Woher hast du …«
»In Zeiten wie diesen benötigt ein Mädchen ein wenig zusätzlichen Schutz.« Karen kroch zur Mündung der Gasse vor und warf einen Blick die Straße hinab. »Alles klar.«
Miyuki glitt neben sie und verbarg sich in ihrem Schatten.
»Komm schon!« Karen ging voran. Sie war aufgeregt und ängstlich zugleich. Sie warf einen Blick zum Himmel. Bis zur richtigen Dämmerung wäre es noch immer eine Stunde. Die Zeit wurde knapp. Ausgangssperre oder nicht, sie war entschlossen, das Treffen nicht zu verpassen. Das war eine Gelegenheit, wie man sie nur einmal im Leben bekam.
Vor drei Jahren war sie von Britisch-Kolumbien an die Ryukyu-Universität gekommen, um dort zu studieren und ihre Doktorarbeit über die mikronesischen Kulturen abzuschließen. Sie hatte Hinweise auf Herkunft und Migrationsmuster der frühen Polynesier gesucht. Während ihres Studiums hier hatte Karen Erzählungen von den Drachen Okinawas gehört. Zwei versunkene Pyramiden sollten es sein, die 1991 von einem Geologieprofessor namens Kimura Masaaki draußen vor der Küste der Insel entdeckt worden waren. Er hatte die Pyramiden mit denjenigen verglichen, die man an uralten Mayastätten in Zentralamerika gefunden hatte.
Karen war skeptisch geblieben – bis sie die Fotografien gesehen hatte: zwei Stufenpyramiden mit terrassenförmigen Spitzen, die sich zwanzig Meter über den sandigen Meeresboden erhoben. Sie war augenblicklich gefangen gewesen. Bestand hier eine uralte Verbindung zwischen den Maya und den Polynesiern? Während des letzten Jahrzehnts waren immer wieder neue versunkene Gebäude in den Gewässern vor benachbarten Inseln entdeckt worden, bis weit in den Süden hinab nach Taiwan. Bald wurde es schwierig, Fakten von Fiktion zu trennen, natürliches Gelände von menschengemachten Bauwerken.
Und jetzt schwirrte unter den Fischern der Ryukyu-Inselkette das allerneueste Gerücht umher: Die Drachen waren dem Meer entstiegen!
Das mochte stimmen oder auch nicht. Aber Karen konnte sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, die Pyramiden aus erster Hand zu erforschen. Ein ortsansässiger Fischer, der Medikamente und andere Hilfsgüter zu den weiter draußen liegenden Inseln bringen sollte, hatte ihr angeboten, sie zu den Bauwerken zu fahren. Aber er wollte bei Sonnenaufgang los, ob sie dabei wäre oder nicht. Deswegen in aller Herrgottsfrühe die Radtour von der Universität zu den Außenbezirken von Naha und das anschließende Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei und den Patrouillen.
Karen ging weiter durch die Straßen. Es tat gut, wieder in Bewegung zu sein. Die morgendliche Brise zauste ihr loses
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