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Im Dutzend phantastischer

Im Dutzend phantastischer

Titel: Im Dutzend phantastischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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sehr.
    Bevor sie das Schloss betreten hatten, war ihr Leben harmonisch und glücklich gewesen, doch dieses alte Anwesen hatte alles zunichtegemacht. Warum? Was war seit gestern nur geschehen? Mary konnte an nichts anderes denken, doch eine Antwort fand sie nicht.
    Sie verspürte Wut. Wut, die durch Enttäuschung entstand. Sie schimpfte auf den Kindness Stone, der keine Liebe schenkte. »Nur Lüge! Alles nur Lüge!«, rief sie und schlug mit der Faust gegen den   Fels. Dorthin, wo sie gestern noch einen flüchtigen Kuss hinterlassen hatte. Ein Schmerz fuhr durch ihre Hand. Ärgerlich rieb sie die pochende Stelle.
    Mary kletterte von dem Stein herunter und schlich leise ins Schloss zurück. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, wenn sie in der Nähe des Felsens war. Im Gegenteil: Eine immer wiederkehrende Wut stieg in ihr auf, die sie nicht zu verdrängen wusste. Leise bewegte Mary sich durch die Räume. Nirgends konnte sie etwas entdecken, auch John war nicht aufzufinden. War er abgereist? Oder beobachtete er sie aus einem versteckten Winkel? Bei dem Gedanken blickte sie um sich. Sie fürchtete sich vor ihrem Ehemann, ihrem Geliebten. Gestern war er das noch gewesen. Heute schien er ein anderer zu sein. Sie durchforschte die Räume. In einer kleinen, verwinkelten Kammer entdeckte sie einen gelben, ausgebleichten, zerschlissenen Vorhang. Sie verspürte Angst und ihr Herz klopfte schnell. Was verbarg sich dahinter? John, der Kälte und Wut an ihr auslassen wollte? Ein Sarg? Oder etwas anderes Gruseliges, Mysteriöses, was in dieses Schloss passen würde? Zögernd ging sie auf den Vorhang zu. Sie lauschte. Es war totenstill. Nur Marys Herzschlag drang laut und aufdringlich an ihre Ohren. Für einen kurzen Moment hielt sie den Atem an und war von der Panik befallen, jemand stünde hinter ihr, einen Dolch in der Hand, eine Axt, ein Gewehr. Sie drehte sie ruckartig um, doch da war niemand.
    Sie beruhigte sich, summte ein Lied vor sich hin und zog den Vorhang zurück.
     
    An dieser Stelle zog der Geschichtenerzähler einen imaginären Vorhang zur Seite. Alle Köpfe schnellten mit weit aufgerissenen Augen neugierig ein Stück vor, als wollten sie sehen, was sich dahinter befand. Die Gäste erkannten natürlich nichts. Aber ihre neugierigen Blicke ließen darauf schließen, dass sich ihre Ungeduld schier ins Unerträgliche steigerte. Der alte Mann schien diese besonderen Augenblicke, in denen seine Zuhörer ihn vor Begierde mit Blicken verschlangen, zu genießen.
    Die Augen der Zuhörer klebten an der Stelle, an der der alte Mann den Vorhang geöffnet hatte. Dann erzählte er endlich weiter.
     
    Hinter dem Vorhang befand sich eine nach unten führende Treppe. Nur die ersten Stufen konnte Mary erblicken. Der untere Teil war in Dunkelheit gehüllt. Wieder schaute sie hinter sich. Sie war allein. Die Neugier siegte. Zitternd legte sie eine Hand auf das alte, eiserne und verschnörkelte Geländer. Sie hatte damit gerechnet, dass es kalt und rau sein würde. Doch es war angenehm warm und glatt. Während sie langsam eine Stufe nach der anderen tiefer in das Dunkel trat, strömte Wärme durch ihre Finger und vertrieb die innere Kälte.
    Weiter und weiter stieg sie die Stufen hinab. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, trotzdem hätte sie beinahe das Ende der Treppe übersehen. Sie stolperte, konnte sich aber noch vor einem Sturz fangen und hielt sich am Geländer fest. Tastend bewegte sie sich an der Wand entlang. Wieso hatte sie auch keine Kerze oder Taschenlampe mitgenommen. Sie schimpfte mit sich und hoffte, einen Lichtschalter zu finden Sie erkannte Möbelstücke, die sich in grauen Schemen abzeichneten.
    Alte, ausgediente Möbel? Oder vielleicht ein Gästezimmer für unerwünschte Gäste?
    Sie dachte an John, daran, wo er stecken mochte, was er machte und ob es ihm gut ging. Noch während sie ihren traurigen Gedanken nachhing, stieß sie einen spitzen, erschrockenen Schrei aus. Ihre Hände hatten nicht mehr das kalte Gestein berührt, sondern eine andere Oberfläche. Mary beruhigte sich wieder und tastete nun die Veränderung in der Wand ab. Sie fühlte raues, unebenes Holz und eine Klinke, die sie nach unten drückte. Es knarrte, doch die Tür ging nicht auf. Mary versuchte es noch einmal, stemmte sich gegen das Holz, und mit einem lauten Knarren schwang die Tür auf.
    Für einen Moment blieb sie überrascht stehen. Dann stieg sie vorsichtig drei Stufen hinab und staunte erneut über die Einrichtung

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