Im Dutzend phantastischer
Minuten enttäuschte er uns nicht: Er bezahlte. Jeden Tag, an dem er blieb. Und er blieb lange.
Jeden Tag erzählte er zwei Geschichten. Es kamen täglich neue Gäste, viele davon aus den Nachbarorten, nur um den Worten des Geschichtenerzählers zu lauschen. Die Einnahmen in dieser Zeit stiegen, und ich hätte mir ohne Verluste zwei oder drei Angestellte leisten können. Doch ich wusste, eines Tages würde uns der alte Mann verlassen. Und dann würde er mir sehr fehlen, nicht nur weil mir seine Geschichten ans Herz gewachsen waren, auch nicht, weil er mir in der Zeit ein Freund geworden war, sondern weil er dann seine Geheimnisse und die Menschen, die sie zu hören erhofften, mit sich nehmen würde. Deshalb sparte ich das Geld für die eintönige Zeit danach.
Wenn der Geschichtenerzähler seine Unterkunft und seine Mahlzeit bezahlte, brauchte ich weder in der Küche, noch hinter dem Tresen zu stehen, alle Gäste klebten mit den Augen an seinen Lippen oder folgten seinen runzeligen Händen, wenn er diese zum Ausführen mancher Geschichten benötigte. Niemand wollte dann essen oder trinken.
Es war eine wunderbare Zeit.
Als er uns nach einigen Monaten verließ, versprach ich ihm, dass ich seine Geschichten weitergeben würde. Und nun sitze ich hier, in meinem mit den Jahren herunter gekommenen Pub. Meine Kraft hat mich ein wenig verlassen, sodass ich mich nicht mehr um alles kümmern kann. Ich habe schon über Verkauf nachgedacht, aber in dem Fall würde ich auch mein Leben verkaufen, und schließlich habe ich noch eine Aufgabe zu erfüllen, die ich einem Freund versprochen habe.
Also sitze ich hier an dem Tisch, an dem ich früher gestanden habe, wenn ich dem alten Mann lauschte – der damals vermutlich schon älter war, als ich es heute bin. Ich schaue auf den Platz, an dem er gesessen hat, umringt von all den neugierigen Männern und Frauen, die seine Erzählungen hören wollten. Wenn ich die Augen schließe, erinnere ich mich an ihn: An sein mit Falten durchzogenes Gesicht, an die hellen, intelligenten, blauen Augen, an die verschrumpelten Hände, die staubige, zerlumpte Kleidung, und an die Stimme, diese warme, beruhigende Stimme, wenn er die atemberaubendsten, schrecklichsten, schaurigsten, bösartigsten und schönsten Geschichten erzählte. Beim bloßen Gedanken daran, spüre ich dieselbe Aufregung wie damals, als ich ihn zum ersten Mal sah: Den Geschichtenerzähler.
»Vielleicht kennen Sie den Ort, von dem ich erzählen werde. Sollte dem nicht so sein, dann rate ich Ihnen, es sich gut zu überlegen, ob sie ihn kennenlernen möchten – diesen geheimnisvollen, grausigen Ort. Heute entführe ich euch in ein Schloss, das Boulder Castle, und stelle euch zwei sich Liebende vor, die heute noch, nach über Hunderten von Jahren dort glücklich vereint miteinander leben.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Kein Mensch konnte so alt werden! Keiner, außer einem Geschichtenerzähler. Der alte Mann wartete ab, bis sich seine Zuhörer vom Staunen erholt hatten.
Mary O`Brien und John McCorthy heirateten am 30.11.1975 imBoulder-Castle . S ie gehörten zu den glücklichsten Paaren, die ich vor ihrer Hochzeit kennen gelernt hatte. Das Castle suchten sie sich aus gutem Grund aus. Auf dem Schlosshof stand auf einem großen Felsen ein kleinerer – der Kindness Stone . Der Stein war von einer hohen Mauer umgeben, und konnte nur nach einer Kletterpartie erreicht werden. So manch einer war dabei schon zu Tode gestürzt. Die Mauer, so wird erzählt, sollte den Stein vor Souvenirsammlern schützen, denn um den Kindness Stone ranken sich zahlreiche Legenden. Er verleiht ewige Liebe und Freundschaft, so die schönste dieser Legenden. Aber nur den beiden Liebenden, die gemeinsam das kalte Gestein küssen. Mit dieser romantischen Legende wollten John und Mary ihre Ehe beginnen, und als sie herausfanden, dass das Boulder – Castle vor vielen Jahren die McCorthy-Burg hieß, sahen sie darin – verliebt, wie sie waren – die richtige Entscheidung, das Schloss zu mieten. John verfügte über ausreichende finanzielle Mittel.
Er ließ eines der Zimmer herrichten, das noch nicht eingestürzt war, staffierte es mit Blumen, einem wunderschönen Bett und Stoffen aus. Der Raum wirkte wie vor Hunderten von Jahren, für eine Prinzessin – seine Liebste – gemacht.
Da die beiden keine Familie hatten und auch der Freundeskreis klein war, heirateten sie in aller Stille vor einem ortsansässigen Pfarrer. Es war eine der schönsten
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