Im Dutzend phantastischer
in den tiefsten Kellern herum zu wandern. Ich hatte eigene Geschichte geschrieben, die schrecklicher war, als die Mauern von Schloss Bran über Jahrhunderte hinweg verborgen hatten. Nicht alles, was geschrieben worden war, entsprach der Wahrheit, manches wurde überzogen dargestellt und fälschlicherweise mir angehängt. Anderes hatte ich verdrängt.
Ich wurde zu einem Chamäleon – passte mich der Umwelt an. Ich lebte zurückgezogen, denn die Herrscher hatten sich verändert. Jetzt war ich hier. In meinem Schloss.
Meine Zeit war gekommen!
Mit einigen Tagen Verspätung trafen meine Möbel ein. Vasilli und Luca, meine getreuen Untertanen, die mich mein Leben lang begleiteten, hatten bei der Überführung einige unangenehme Fragen zu beantworten. Dieses Problem war bekannt, sie hatten es mit Gelassenheit genommen.
Pressemitteilung:
Bukarest – Das Schloss Bran hat seit vier Wochen einen neuen Besitzer. Wie jetzt bekannt wurde, soll das Schloss mit einer hohen Mauer umbaut werden, damit Touristen fernbleiben. Somit hat Rumänien eine der größten Einnahmequellen des Tourismus verloren. Der neue Besitzer, dessen Name geheim gehalten wird, stand für ein Interview nicht zur Verfügung.
Ich verwandelte mithilfe der historischen Aufzeichnungen das Schloss zu dem, was es im 15. Jahrhundert dargestellt hatte. Es lag mir allerdings fern, auf den Luxus des 21. Jahrhunderts zu verzichten – ich hatte in der Vergangenheit oft gefroren. Meine Residenz verfügte über Heizungen, Warmwasser und elektrische Leitungen.
Nach vier Wochen gab ich ein Diner, zu dem ich namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Kultur einlud. Sie sollten mich als großzügigen Gastgeber kennen und schätzen lernen.
Nach einem weiteren Monat öffnete ich die Tore für die armen Leute der Stadt. Ich machte mich beliebt – und traf dabei meine Auswahl. Der Gedanke daran versetzte mich in Erregung.
Ich musste mich zurückhalten, was mir schwerfiel.
In regelmäßigen Abständen wiederholte ich diese Events, die als einzigartig im Umland galten, und genoss die Anerkennung von Arm und Reich. Mein Ansehen wuchs, und es gab niemanden mehr, der nicht in meiner Schuld stand – doch Einladungen zu Wohltätigkeitsveranstaltungen, Abendessen oder Tanztees lehnte ich ab.
Vielmehr wählte ich unter meinen Gästen aus. Jedes Mal ein bisschen mehr. Häppchenweise.
Pressemitteilung:
Bukarest – Die verstümmelte Leiche eines jungen Mannes wurde in der letzten Nacht im Waldrand nahe von Bran gefunden. Bissspuren an Hals und Bauch deuteten zunächst auf ein Tier hin, doch die Polizei identifizierte eindeutig menschlichen Speichel auf den Wunden, der ebenfalls von einem Leichnam zu stammen schien, jedoch nicht vom Opfer selbst. Die Ermittler sind ratlos. Die Einheimischen sprechen von einem Fluch und glauben, Graf Dracula sei zu ihnen zurückgekehrt.
Vlad Tepes hatte nie in Schloss Bran gelebt – bis zu diesem Zeitpunkt, als ich die mir ewig nachgesagte Residenz endlich einnehmen konnte. Mein Hunger, über die Jahrhunderte gewachsen, ist unersättlich.
Telefonkontakt
(1995)
Maren versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Immer wieder schaute sie auf die Uhr, die über dem Fernseher hing. Steve müsste längst da sein. Sie waren für halb sieben verabredet gewesen, jetzt war es zehn nach acht. Hoffentlich war nichts geschehen. In ihrer Fantasie stellte sie sich ihren Freund blutverschmiert am Straßenrand vor, überfahren von einem rasenden LKW, erschossen von einer Horde Wahnsinniger, erschlagen von einem Stein, der von einer Brücke geworfen worden war; er könnte mit dem Auto in Flammen aufgegangen sein, vom Zug überrollt oder in einen Fluss gefahren und bitterlich ertrunken sein. Die Angst schnürte ihre Kehle zu und ließ ihren Blick verschwimmen. Sie hatte Angst, Steve zu verlieren.
Plötzlich ließ das Klingeln ihres Handys Marens Herz so heftig schlagen, dass es lauter zu sein schien als der Aufprall des Buches, welches ihr vor Schreck vom Schoß gerutscht war.
Das Gerät lag direkt neben ihr auf der Couch. Sie griff danach, stellte den Kontakt her und meldete sich mit zittriger Stimme und fragendem Ton, als hätte sie ihren eigenen Nachnamen vergessen: »Simon?!«
»Maren!«
Es war Steve. Imaginäre Lawinen rollten von Marens Seele und hinterließen pure Erleichterung. Ihm war nichts geschehen, er lebte.
Er lebte!
»Maren, ich hatte einen Unfall!«
Die Steine der Lawine
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