Im eigenen Schatten
Österreich, ein paar Meter nur hinter der Grenze. Von 1956 bis 1988 wurden dreihunderteinundsechzig Attentate verübt, die einundzwanzig Menschenleben forderten und siebenundfünfzig Verletzte. Terroristen oder Widerstandskämpfer? Darüber wurde noch immer hitzig diskutiert.
Mit dem Vertrag von Saint-Germain war nach dem Ersten Weltkrieg das Gebiet südlich des Brenners dem italienischen Königreich zugeschlagen worden. Unter Mussolini wurde dort die Italianisierungspolitik so gnadenlos durchgesetzt wie gegen die ladinische Bevölkerung der Dolomiten, im Friaul mit seiner starken slowenischen und auch deutschsprachigen Bevölkerung, die Slowenen auf dem Karst oder im multikulturellen Triest, in dem über neunzig Ethnien zu Hause waren, sowie in den französischsprachigen Tälern des Piemont, gegen das Kroatische in Istrien und Dalmatien und auch im Aostatal, wo Patois gesprochen wurde. Auch der Nationalsozialismus hatte bald eine breite Anhängerschaft gefunden, die sich im Völkischen Kampfbund Südtirol sammelte.
Doch selbst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es unterschiedliche Vorstellungen von Frieden gegeben. Italien scherte sich wenig um die Einhaltung des Autonomieversprechens, das im Pariser Abkommen zwischen Ministerpräsident Alcide de Gasperi und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber besiegelt worden war. Nur auf dem Papier war der Urbevölkerung Südtirols Selbstverwaltung zugesichert worden, das Recht zum Unterricht in der Muttersprache, die Gleichstellung mit den Italienern und Deutsch als zweite Amtssprache. Dazu sollten noch der freie Menschen- und Warenverkehr nach Tirol kommen, eine autonome regionale Gesetzgebung sowie die Rückbenennung der Familiennamen und Ortsbezeichnungen.
»Du weißt schon, was ich meine«, beharrte Jo. »Wir Südtiroler müssen uns jetzt auch erheben. Selbst in Tunesien, Ägypten und Libyen haben sie es geschafft. Deutschland und Österreich müssen uns unterstützen. Dann wird Südtirol frei sein. Und dafür muss man halt etwas tun.«
Er faselte weiter von Fremdherrschaft, Selbstbehauptung, Tirolertum, Kolonialvolk. Als Landfremde bezeichnete er die Italiener. Und als drohende Verelsässerung die natürliche Assimilierung dank Mischehen, zweisprachigen Unterricht im Kindergarten und die Mitgliedschaft in Sportvereinen. Mit gereckter flacher Hand schwafelte er von Pangermanismus. Sein Dialekt war ein wildes Gemisch, in das sich viele italienische Ausdrücke eingeschlichen hatten.
Einige jüngere Politiker bedienten sich der heimattümelnden Slogans, mit denen sich einst Franz Xaver Spechtenhauser die Wiederwahl als Senator sichern hatte können. Und der einunddreißigjährige Johann Pixner hätte sich gerne als Volksheld gesehen.
»Frieden gibt es erst, wenn Südtirol frei ist. Es braucht einen großen Schlag. Diese Coglioni in Wien und Berlin müssen aufwachen. Bei jedem Negerstamm greifen sie ein, nur uns lassen sie hängen. Ein Knall, das ist es, was sie hören müssen, Dio cane.«
»Schreib einen Brief an die deutsche Bundeskanzlerin, Jo. Oder schnapp sie dir, wenn sie im Sommer in Sulden im Vinschgau Ferien macht.«
»Diese Kommunistin kriegt doch ihren Fettarsch nicht hoch, da hat dieser Italiener wenigstens einmal recht gehabt. Ein Attentat braucht’s. Bums.« Jo hieb mit beiden Fäusten auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. »Du warst doch auch immer dafür.«
Anton schüttelte den Kopf und schenkte Bier nach. »Da bist du auf dem falschen Gleis. Es ist gegen das System gegangen, nicht gegen das italienische Volk. Nur gegen die Unterdrückung unseres Volkstums. Ein Freiheitskampf gegen die Zentralmacht. Das waren Bauern wie zuletzt Andreas Hofer, die sich mit Unterstützung deutschnationaler Gruppierungen willfährig den Demagogen unterworfen haben. Stille Hilfe, aus Bayern! Und Franz Josef Strauß, Alfred Dregger, Otto von Habsburg und Josef Ertl waren auf unserer Seite. Die gibt’s doch alle nicht mehr. Heute benehmen sich Widerstandskämpfer anders.« Der Steuerberater im Ruhestand nahm einen tiefen Schluck. »Wir haben erreicht, was wir wollten. Rom kriegt so gut wie kein Geld von uns, dafür bezahlen sie für Polizei und Rettungswesen, Gericht und Beamte. Billiger kriegen wir das nirgends. Es geht ums Geld, um sonst nichts.«
Sonntag, 4 Uhr 55. Die Sonne hatte sich bereits über den Karst erhoben. Im Hangar am Flughafen Triest/Ronchi dei Legionari brannte in der Ecke, wo die Computer des Erkennungsdienstes standen, eine
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