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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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großen Augen an. »Ach, Herr Jesus …«
    »Ich habe doch gesagt, die falsche Zeit, der falsche Ort.«
    »Und wo ist eigentlich Naz, dein Bruder?«
    Jo zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich habe mein Mobiltelefon nicht dabei.«
    »Besser so«, sagte Anton, der sich wieder gefasst hatte. »Wenn es so ist, wie du sagst, hören sie es gewiss ab. Hier bist du fürs Erste sicher. Zur Zeit jagen sie eh mit vollem Aufgebot den Leitner Max, nachdem er zum fünften Mal ausgebrochen ist. Aber wir müssen aufpassen und überlegen, wie wir verhindern, dass sie dich kriegen.«
    Der legendäre Ausbrecherkönig hatte inzwischen eine riesige Fangemeinde in Facebook. Wer Banken erleichterte, sich der Staatsgewalt zu entziehen und geschickt als verzweifeltes Opfer der sozialen Umstände darzustellen wusste, genoss in diesen wirtschaftlich finsteren Zeiten viel Sympathie.
    »Der Leitner ist zum Volksheld geworden«, sagte Anton Pixner. »Die Carbinieri vermuten ihn hier bei uns. Sie gehen davon aus, dass man sich immer dort versteckt, wo man sich am besten auskennt. Wenn du zehnmal Urlaub auf Mallorca gemacht hättest, würden sie dich dort suchen. Hast du keine Kontrollen unterwegs gesehen?«
    Jo schüttelte den Kopf. »Vielleicht sind auch die Bullen beim Mittagessen.«
    »Und Naz?«
    »Keine Ahnung, wir wollten uns am Montag bei den Kameraden in Saltaus treffen.«
    Jo erhob sich, um im Haus auf die Toilette zu gehen. Als er zurückkam, lag seine Jacke auf dem Schoß des Cousins, und in der Hand hielt Anton den dicken Briefumschlag mit den Banknoten.
    »Sechsundvierzigtausendsiebenhundert«, sagte er, bevor Johann den Mund aufbekam. »Alle Achtung, aber weshalb eine so krumme Zahl?«
    »Unkosten unterwegs.«
    »Wenn ich es richtig vermute, hat Naz auch so einen Umschlag bekommen.« Er strich sich durch das dichte graue Haar. »Die Nachrichten haben eine Beute von sechzig Millionen genannt. Ist das alles?«
    »Den zweiten Teil gibt’s am Mittwoch.«
    Anton schien die Antwort nicht zu interessieren. »Wie ich sehe, reist du ohne Gepäck. Wie lange trägst du die Klamotten schon?«
    »Seit Freitag, warum?«
    »Du stinkst wie ein Iltis. Ich zeige dir ein sicheres Versteck in der Scheune. Eine falsche Wand, durch die es in eine versteckte Kammer geht. Wenn jemand kommt, verziehst du dich dorthin und wartest, bis ich grünes Licht gebe. Verstanden? Und dann fahr ich zu deiner Mutter rüber und besorge dir frische Klamotten.«
    »Sag ihr nichts von mir.«
    »Weshalb sollte sie mir dann deine Kleider geben? Hast du sie wirklich nie besucht oder wenigstens angerufen, seit du wieder draußen bist?«
    »Keine Zeit«, murrte Jo.
    »Wie, keine Zeit? Gerade war Muttertag! Die Keimzelle des Volkes ist die Familie. Halt dich dran. Ich werde ihr sagen, dass du erst vor kurzem entlassen worden bist. Eine Mutter ist eine Mutter.«
    »Ich habe unsere Ideale nie verraten, Toni. Ganz im Gegenteil, jetzt kommen wir weiter.« Er zeigte auf den Packen Banknoten auf dem Tisch und grinste breit.
    »Was meinst du damit?«
    »In zwei Wochen ist das fünfzigste Jubiläum der Südtiroler Feuernacht, Toni. Ihr Bumser habt uns schließlich gezeigt, wie das geht.«
    »Johann, ich war damals gerade erst elf Jahre alt. Die Zeiten sind vorbei. Heute geht es uns besser als allen anderen. Natürlich muss man aufpassen, dass die Walschen kein Oberwassser haben, aber Sprengstoff brauchen wir heute nicht mehr.«
    Mit Bombenanschlägen hatten Anhänger des BAS, Befreiungsausschuss Südtirol, in den fünfziger und sechziger Jahren massiv die Abspaltung ihres Landstrichs von Italien und die Vereinigung mit Tirol zu erreichen versucht. »Bumser« wurden sie in Anrufung der Sprache Goethes und Luis Trenkers genannt, weil dumpfer Donnerklang die Täler bei einem Anschlag durchzog. Unter strengster Geheimhaltung hatten sie Semtex aus Innsbruck und Geld aus Wien und Bonn und München erhalten, während die Gewalt auf allen Seiten eskalierte. Auch der tschechische Geheimdienst hatte in Abstimmung mit Moskau nachweislich Sprengstoff geliefert, um Instabilität in Westeuropa zu schaffen, das sich wieder in wirtschaftlichem Wachstum befand. Die römische Regierung entsandte über zwanzigtausend Soldaten und Carabinieri, die wenig zimperlich mit Verdächtigen umgingen. Mindestens zwei Separatisten hatten die Folterungen nicht überlebt, gegen andere waren Höchststrafen verhängt worden, und mancher der bekennenden Attentäter lebte bis heute im selbstgewählten Exil

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